Überwindung der Probleme?

geschrieben von Emma Sammet

7. Januar 2023

Ein optimistisches Menschenbild angesichts von Krieg und Krise

100.000.000.000 Euro für die Rüstung und Rekordgewinne bei Rheinmetall und Co. Eilmeldungen und breite Berichterstattung über einen Krieg. Öffentliche Zustimmung. Steht dies im Gegensatz zu Annahmen über die Menschen, die linke Politik jahrelang trugen: Menschen stehen Kriegen ablehnend gegenüber, sie verletzen und töten nicht gerne, denn Menschen sind im Grunde gut?

Kein Homo oeconomicus als Basis

»Im Grunde gut«, so heißt auch ein Buch von Rutger Bregman, erschienen 2019 zunächst auf Niederländisch. Auf rund 480 Seiten beleuchtet Bregman vor dem Hintergrund der derzeitigen existenziellen Krisen das vorherrschende Menschenbild. Denn wenn wir an eine Überwindung der Probleme glauben wollen und eine bessere Gesellschaft imaginieren, dann funktioniert dies nicht auf Basis des eigennützigen Homo oeconomicus. Dass die Vorstellung vom guten Menschen kein frommer Wunsch ist, sondern wissenschaftlich fundiert, legt Bregman kapitelweise aufbereitet, in einem Wechsel aus Anekdote, Aufsatz und Selbstreflexion dar. Hierbei untersucht er die Domestizierung des Menschen als »Homo puppy« und archäologische Funde, aber auch die Grundlagen direktdemokratischer Revolutionen wie in Venezuela im 21. Jahrhundert. Nebenbei stellt er durch kritische Kontextualisierung die Ergebnisse grundlegender verhaltenswissenschaftlicher Studien der 1960er-Jahre aus Harvard und Yale vom Kopf auf die Füße.

Rutger Bregman: Im Grund gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt-Taschenbuch, Hamburg 2020, 480 Seiten, 15 Euro; auch als Hörbuch auf Spotify

Rutger Bregman: Im Grund gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt-Taschenbuch, Hamburg 2020, 480 Seiten, 15 Euro; auch als Hörbuch auf Spotify

Für das Thema Krieg und Frieden – der »Elefant im Raum«, wenn man über gute Menschen schreibt – hält Bregman spannende Erkenntnisse bereit (Kapitel 4): Die große Mehrheit der Soldat*innen tötet im Krieg nicht. Viele benutzen nicht einmal ihre Waffen. Bereits aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg gibt es Berichte, dass auf den Schlachtfeldern tausende Gewehre mit mehreren (in einem Fall mit 23) Kugeln im Rohr gefunden wurden. Und das, obwohl nur eine Kugel auf einmal geladen werden konnte. Das bedeutet, dass unzählige Soldaten nur simuliert haben zu schießen. Auf Befehl haben sie ihr Gewehr beladen, im Takt mit den anderen; geschossen haben sie aber nicht. Stattdessen sammelten sie ihre Munition im Gewehr versteckt. Auch für andere Kriege lässt sich Ähnliches berichten: aus der französischen Armee der 1860er wird berichtet, dass Soldaten systematisch zu hoch zielten. Die weihnachtliche Verbrüderung deutscher, französischer, belgischer und britischer Soldaten zu Beginn des Ersten Weltkriegs ist keine Legende. Insgesamt legen verschiedene Berechnungen nahe, dass nur zwischen 13 und 25 Prozent aller Soldat*innen ihre Waffen überhaupt je abfeuern.

Doch wieso finden dann Kriege statt? Die großen Fragen nach Kapitalismus, Imperialismus und Befreiungskämpfen werden von Bregman nur angerissen. Er konzentriert sich auf die menschliche Ebene: Wieso töten doch (einige) Menschen im Krieg? So paradox es erscheinen mag: zum einen weil sie glauben, damit etwas Gutes zu tun (Kapitel 10). Im Zweiten Weltkrieg kämpften weniger deutsche Soldaten aus nationalsozialistischen Motiven, als die Nazis es gerne gehabt hätten. Doch dies wussten die Nazigeneräle sogar! Stattdessen wurden gezielt Boot-Camps veranstaltet, Gemeinschaft und Korpsgeist kreiert. Deutsche Soldaten töteten dann zwar nicht fürs Vaterland, aber immerhin für ihre Kameraden.

Kriegführer und Kriege

Der andere Grund, der in der derzeitigen Gemengelage an Bedeutung gewonnen hat: Töten wird einfacher mit gesteigerter Distanz, wenn Soldat*innen ihren Gegner*innen indirekt gegenübertreten und sie in der Folge weniger menschlich wahrnehmen. Drohnenangriffe, vom anderen Ende der Welt gesteuert, erleichtern Menschen das Töten erheblich. Das wissen auch die Kriegführer und organisieren Kriege entsprechend.

Selbstverständlich umfasst die Thematik noch weitere Ebenen und Facetten. Dies weiß auch Bregman und bringt immer wieder selbst Gegenargumente hervor. So begleiten wir ihn bei der Lektüre im Prozess des Schreibens. Wir können verfolgen, wie auch von ihm fest geglaubte Erkenntnisse überholt werden und lernen so den Autor Rutger Bregman kennen. Geboren 1988 in den Niederlanden hat der studierte Historiker bereits drei Bücher veröffentlicht. Dabei agiert er als Autor und Aktivist und fordert beispielsweise die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und ein bedingungsloses Grundeinkommen (»Utopien für Realisten«) oder die Beschäftigung mit dem Klimawandel (»Wenn das Wasser kommt«, mit Susanne Götze).

Grundlage des Engagements

Insofern lohnt die Lektüre über das Titelthema dieser Zeitung hinaus als Grundlage des politischen Engagements. Denn auch wenn die aktuellen und historischen Kriege und Krisen ein optimistisches Menschenbild infrage stellen, bleibt dies doch grundlegend nötig und möglich. Bregman gibt hier Mut und Anregungen mit.