Bisher kaum Konsequenzen

geschrieben von Cornelia Kerth

9. März 2023

Zum Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, der im Juni 2021 erschien

Die Arbeit der Kommission

Im März 2019 berief der damalige Innenminister Horst Seehofer auf Beschluss des Bundestags eine »Unabhängige Kommission Antiziganismus« aus Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen und beauftragte sie, den Antiziganismus in der Bundesrepublik »als eine spezifische Form von Rassismus umfassend zu untersuchen, um Strategien zu seiner Überwindung zu entwickeln«.

Im Juni 2021 hat die Kommission ihren Bericht mit dem Titel »Perspektivwechsel – Nachholende Gerechtigkeit – Partizipation« vorgelegt, in der Öffentlichkeit wird dieser Meilenstein der Befassung mit dem Antiziganismus in Deutschland noch kaum wahrgenommen, auch in der Politik ist die Resonanz bisher bescheiden.

Es ist bezeichnend für die »Nichtbearbeitung und Abwehr von Antiziganismus/Rassismus gegen Sinti_ze und Rom_nja«, dass die elf Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen zunächst insgesamt fünfzehn Studien in Auftrag geben mussten, um »für den Bericht ihre eigene Expertise und um Erkenntnisse zu nicht hinreichend erforschten Fragestellungen ergänzen zu können«.

Im Vorwort verweist die Kommission auf mehrere Ereignisse, die ihre Arbeit begleitet haben und die Wirksamkeit von Antiziganismus in der Bundesrepublik deutlich machen und stellt auch den Zusammenhang zur Ermordung von Mercedes Kierpacz, Vili Viorel Paun und Kaloyan Velkov her, die zu den neun Todesopfern des Terroranschlags von Hanau gehören.

Das Ergebnis

Im Ergebnis – das bereits im Vorwort in Kurzfassung vorgestellt wird – werden drei zentrale Befunde identifiziert, die für den Bericht als grundlegend betrachtet werden:

  1. »Antiziganismus/Rassismus gegen Sinti_ze und Rom_nja ist ein strukturell in der europäischen Moderne angelegtes vielschichtiges Phänomen langer Dauer. (…) Erst die Anerkennung dieser Tiefendimension ermöglicht es, Antiziganismus in seinen weitreichenden Folgen zu verstehen.«
  2. »(…) dass sich die Auswirkungen des NS-Völkermordes wie ein roter Faden durch die gesamte Darstellung ziehen, ist ein Ergebnis, das so nicht zu erwarten war«. Das habe seine Ursache insbesondere darin, »dass nach 1945 eine Anerkennung des Völkermordes über Jahrzehnte ausblieb und die Täter und Täterinnen juristisch nicht zur Verantwortung gezogen wurden, sondern stattdessen in der Bundesrepublik weitgehend unbehelligt weiterwirken und ihre Karrieren fortsetzen konnten. In Form einer Schuldumkehr schrieben sie im Konsens mit weiten Teilen der Gesellschaft die Ursachen der Verbrechen den Opfern zu; gleichzeitig wurden Praktiken der Stigmatisierung, Sondererfassung (…) fortgeführt«.
  3. »Schließlich musste auffallen, dass die Erfahrungen der (…) betroffenen Menschen im öffentlichen Diskurs nahezu unsichtbar sind. Sie werden kaum thematisiert.«

Studien und Hearing seien in dieser Form nur möglich gewesen, weil Community-Angehörige federführend daran mitgearbeitet haben. Das der Kommission dadurch zur Verfügung gestellte Wissen sei unersetzlich und grundlegend für ihre Arbeit gewesen.

Aus den Befunden entwickelt die Kommission Forderungen und Handlungsempfehlungen an Politik und Gesellschaft, die den drei Kategorien, die der Bericht im Titel trägt, zugeordnet werden:

  • »Um Antiziganismus (…) zu überwinden, bedarf es erstens eines grundlegenden Perspektivenwechsels in der Gesellschaft, der die Relevanz von Antiziganismus anerkennt und die damit zusammenhängenden institutionellen Macht- und Gewaltverhältnisse kritisch reflektiert und zu überwinden trachtet.
  • Zum zweiten ist eine Politik der nachholenden Gerechtigkeit erforderlich, die das seit 1945 begangene Unrecht gegenüber Überlebenden und deren Nachkommen ausgleicht.
  • Drittens bedarf es einer gezielten Förderung von Partizipation, um Selbstorganisationen bei der Durchsetzung von gesellschaftlicher Teilhabe dauerhaft zu unterstützen.«

Am Ende der Einleitung hält es die Kommission für notwendig, noch einmal auf das »eigenständige Macht- und Gewaltverhältnis« hinzuweisen, das sich von anderen Formen rassistischer Diskriminierung deutlich unterscheide. »Die Notwendigkeit einer Unterscheidung ist nicht zuletzt aufgrund des an Sinti_ze und Rom_nja begangenen nationalsozialistischen Völkermords sowie der sogenannten Zweiten Verfolgung nach 1945 in der Bundesrepublik evident. Der Erfolg einer wirksamen, gezielten Bekämpfung und Überwindung von Antiziganismus hängt unmittelbar von der Anerkennung dieser Besonderheit ab.«

Zentrale Forderungen

Die Kommission macht deutlich, dass sie die Bundesregierung und den Bundestag, in deren Auftrag sie gearbeitet hat, in der Verantwortung sieht, »gezielt, unmittelbar und ohne Nivellierung der Besonderheit von Antiziganismus dessen Bekämpfung und Überwindung auf die politische Agenda zu setzen«.

1. Berufung einer_eines Beauftragten gegen Antiziganismus und Einsetzung eines unabhängigen Beraterkreises

Von den sechs aus den Forschungsergebnissen abgeleiteten Forderungen scheint knapp zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Berichts immerhin eine zur Hälfte erfüllt: Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler wurde zum Bundesbeauftragten gegen Antiziganismus berufen.

2. Schaffung einer ständigen Bund-Länder-Kommission

Da viele der vorgeschlagenen Maßnahmen, z. B. in Bezug auf Bildung, Justiz und Polizei, in die Zuständigkeit der Länder fallen, ist die Forderung, auch auf Landesebene Beauftragte gegen Antiziganismus und entsprechende unabhängige Beraterkreise zu schaffen. »Nach dem Vorbild der Bund-Länder-Kommission zur Bekämpfung des Antisemitismus soll die Vertretung der Länder in der einzurichtenden Bund-Länder-Kommission durch die Beauftragten gegen Antiziganismus erfolgen.«

3. Umfassende Anerkennung des nationalsozialistischen Genozids an Sinti_ze und Rom_nja

Hier geht es der Kommission nicht um Worte. Die über Jahrzehnte verweigerte Anerkennung des Völkermords »hat entscheidend zum Fortwirken von Antiziganismus (…) nach 1945 beigetragen und führte zu einer gravierenden Schlechterstellung von Sinti_ze und Rom_nja auf der Gesetzes- und Umsetzungsebene in der ›Wiedergutmachung‹. Die Unabhängige Kommission Antiziganismus fordert daher die Bundesregierung auf, diesen Nachteil umfassend und unmittelbar auszugleichen.« Sie empfiehlt dem Bundesministerium für Finanzen, »die im Bund und in den Ländern zuständigen Behörden explizit auf die Gültigkeit des Grundsatzes einer Kollektivverfolgung (…) für den Zeitraum vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 hinzuweisen.«

Daraus ergibt sich die Forderung nach der Einrichtung eines Sonderfonds für diejenigen, die nach den gesetzlichen Vorschriften bisher keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten haben. Dazu zählen auch die bis 1965 geborenen Kinder der Überlebenden.

Wollten Politik und Gesellschaft der Minderheit einen grundlegenden Perspektivwechsel glaubhaft erfahrbar machen und zumindest symbolisch nachholende Gerechtigkeit walten lassen, wäre die Umsetzung dieser Forderung das Gebot der Stunde.

4. Kommission zur Aufarbeitung des an Sinti_ze und Rom_nja begangenen Unrechts in der Bundesrepublik Deutschland

Das durch staatliche Behörden und andere gesellschaftliche Institutionen der Bundesrepublik Deutschland – von Polizei und Justiz bis zu Kirchen und Wohlfahrtsverbänden – begangene Unrecht wird im Bericht ausführlich gewürdigt. Die logische Forderung im Sinne von Perspektivwechsel und Gerechtigkeit ist die Einsetzung einer mit »angemessenen finanziellen und personellen Ressourcen sowie Befugnissen« ausgestatteten Kommission. Sie soll »die Wahrheit über das begangene und bis heute fortdauernde Unrecht bekannt machen, die Verantwortung benennen und konkrete Schritte festlegen, um nachholende Gerechtigkeit herzustellen und in einen gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess einzutreten«.

5. Anerkennung von geflüchteten Rom_nja als besonders schutzwürdige Gruppe

Auch dem Umgang mit in Deutschland Schutz suchenden Rom:nja hat sich die Unabhängige Kommission ausführlich gewidmet. Zusammenfassend schreiben die Autor:innen: »Fluchtursachen wurden nicht anerkannt, und auch eine historische Verantwortung wurde für diese Überlebenden und Nachkommen eines vom nationalsozialistischen Deutschland zu verantwortenden Genozids (…) nicht übernommen.«

In der Anwendung des Aufenthaltsgesetzes sei nun klarzustellen, dass »die in Deutschland lebenden Rom_nja aus historischen und humanitären Gründen als eine besonders schutzwürdige Gruppe anzuerkennen sind«. Landesregierungen und Ausländerbehörden seien aufgefordert, Abschiebungen sofort zu beenden.

Die »nicht haltbare Einstufung« der Nachfolgestaaten Jugoslawiens als »Sichere Herkunftsstaaten« sei zurückzunehmen und die bisherige Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu prüfen. Kumulative Verfolgungsgründe sind anzuerkennen.«

6. Umsetzung und Verstetigung von Partizipationsstrukturen

Zutreffend stellt die Kommission fest, dass das Recht der Communitys der Sinti_ze und Rom_nja als Teil der deutschen Gesellschaft bis heute nur unzureichend verwirklicht ist.

»Die Unabhängige Kommission Antiziganismus fordert die politisch Verantwortlichen deshalb auf, effektive und nachhaltige Partizipationsstrukturen (…) auf allen Ebenen zu schaffen.« Dies umfasse u. a. ein Vertretungs- und Stimmrecht in Rundfunk-räten und Landesmedienanstalten.

Die zivilgesellschaftliche Arbeit der Organisationen von Sinti_ze und Rom_nja seien mit dauerhafter finanzieller Förderung zu stärken, Partizipationsmodelle wie Staatsverträge und/oder Partizipationsräte sollen in Zusammenarbeit mit den Communitys umgesetzt und gesetzlich verankert werden. Dabei sei die Heterogenität in Partizipation und materieller Förderung abzubilden.

Während die Kommission forderte, das Amt des Beauftragten gegen Antiziganismus solle im Kanzleramt angesiedelt sein und die Maßnahmen zur Überwindung des Antiziganismus und zur Prävention ressortübergreifend organisieren, ist es nun im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gelandet. Auf dessen Homepage ist zu lesen: »Das neue Amt soll Vorurteilen entgegenwirken, die in der deutschen Gesellschaft gegen Sinti und Sintize sowie Roma und Romnja auch heute noch weit verbreitet sind und Schutz vor Diskriminierung und Anfeindung bieten.«Der unabhängige Beraterkreis »aus Wissenschaft, Praxis und Zivilgesellschaft«, bei dessen Zusammensetzung sicherzustellen sei, »dass die Perspektive der vom Antiziganismus Betroffenen mehrheitlich und in einem möglichst breiten Spektrum vertreten ist«, ist nicht in Sicht. Dabei sollte er doch nach Empfehlung der Kommission die Agenda und Arbeitsweise des Beauftragten im Benehmen mit diesem Gremium festlegen. Perspektivenwechsel?
Alle Zitate stammen aus dem Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus. Wer sich nicht das komplette 800-Seiten-Werk herunterladen oder bestellen will, kann sich auf den Seiten 2 bis 20 einen ersten Überblick verschaffen.

Der Bericht und die Einzelstudien sind zu finden unter: https://kurzelinks.de/193a

Die Anerkennung als Völkermord hat zwei Aspekte: Zum einen setzt sie die Finanzbehörden, die z. B. in Hamburg in einer Vielzahl von Fällen, in denen das »Amt für Wiedergutmachung« Anträge von Sinti und Roma positiv beschieden hatte, systematisch Widerspruch eingelegt und die Verfolgung der Minderheit und deren Folgen bestritten hatte, ins Unrecht. Zum zweiten begründet sie die Forderung nach der Einrichtung eines Sonderfonds für diejenigen, die nach den gesetzlichen Vorschriften bisher keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten haben. Daraus sollen alle Überlebenden eine »niedrigschwellige, einmalige Anerkennungsleistung« und diejenigen, »die die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, (…) laufende Leistungen erhalten«.Fast zwei Jahre sind inzwischen vergangen, und außer der Berufung des Antiziganismus-Beauftragten (mit den beschriebenen Einschränkungen) deuten sich zumindest öffentlich noch keine der substanziellen Veränderungen an, die notwendig sind, wenn man die Schlussfolgerungen aus der Arbeit der Kommission ernst nimmt.
Grund genug, als VVN-BdA mit den Organisationen der Sinti und Roma (so nennen sie sich meist selbst) in engere Kontakte zu treten und an der Verbreitung des Berichts und seiner Befunde mitzuwirken. Insbesondere den Forderungen 3 bis 5 zur nachholenden Gerechtigkeit Nachdruck zu verleihen, könnte und sollte eine Aufgabe sein, an der wir uns in der nächsten Zeit verstärkt beteiligen. Denn: wenn der »Ball« nicht aufgegriffen wird, den die Kommission mit ihrer Arbeit und dem Bericht ins Feld der gesellschaftlichen Debatte geworfen hat, könnte es sein, dass er am Ende müde ausrollt und es bei warmen Worten an Gedenktagen bleibt. Dass dies nicht geschieht, sollten auch wir zu unserer Aufgabe machen.