Piratin mit rotem Winkel

geschrieben von Hannah Geiger

9. März 2023

Eine Doku über zwei Frauen, die sich im KZ Ravensbrück lieben lernten

Die Kamera schwenkt über erschöpfte Gesichter zahlreicher Frauen in gestreifter Häftlingskleidung, einige lächeln erleichtert und winken. Es sind befreite Häftlinge aus den Konzentrations-lagern, die nach Jahren der Gefangenschaft am 28. April 1945 im Hafen von Malmö ankommen.

Die Ankunft wurde einst von schwedischen Nachrichtenfotografen gefilmt, Schwarz-Weiß-Aufnahmen eines historischen Moments. Der schwedische Regisseur Magnus Gertten hat eine Filmtrilogie daraus gemacht, »Harbour of Hope« (2011), »Every Face Has a Name« (2015) und »Nelly & Nadine« (2022). Mit dem letzten Teil erreichte Gertten internationale Aufmerksamkeit, der Dokumentarfilm feierte bei der Berlinale 2022 Premiere und wurde mit einem Teddy-Award ausgezeichnet.

Die Geschichte der beiden Hauptpersonen, Nelly Mousset-Vos und Nadine Hwang, wird von Nellys Enkelin Sylvie Bianchi erzählt, die in Nordfrank-reich auf einem Bauernhof lebt. Es ist die Geschichte einer Frau durch den zärtlichen Blick ihrer Enkelin. 20 Jahre lang hatte Sylvie die Tagebücher, Fotos und Dokumente ihrer Großmutter aus der Zeit der Naziherrschaft nicht angerührt, sie lagen unbeachtet auf dem Dachboden. Dass Nelly und Nadine ein Liebespaar waren, konnte sie lange nicht aussprechen, erst der Film ermöglicht es Sylvie über ihren Schatten zu springen. »Ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass diese beiden Frauen vielleicht ineinander verliebt sind?«, wird sie von der Biografin Joan Shenkar gefragt.

Was Sylvie dann auf ihrem Dachboden entdeckt, ist erstaunlich: Im Dezember 1944 lernte Nadine Hwang die belgische Opernsängerin Nelly Mousset-Vos im Konzentrationslager Ravensbrück kennen, und die beiden verliebten sich. Nelly war bis zu ihrer Verhaftung als Kurierin im Widerstand gegen die Nazis tätig. Im März 1945, kurz vor der Befreiung, wird Nelly nach Mauthausen deportiert und überlebt die Grauen des Lagers nur durch ihre Gedanken an ein Wiedersehen mit Nadine. Im April 1945 wird Nadine Hwang vom Roten Kreuz befreit und mit anderen Häftlingen nach Schweden gebracht.

»Nelly & Nadine«, Dokumentation, 2022, 92 Minuten, Regie: Magnus Gertten, Schweden/Belgien/Norwegen

»Nelly & Nadine«, Dokumentation, 2022, 92 Minuten, Regie: Magnus Gertten, Schweden/Belgien/Norwegen

Im Film geht es viel um Nelly und Sylvies Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Großmutter. Nadines Biografie bleibt im Hintergrund, dabei ist diese besonders spannend. Schon bei der Szene am Hafen sticht Nadine ins Auge. Sie sieht anders aus, maskuliner, härter, und ihr Blick erweckt den Eindruck, sie habe etwas erlebt, das sie von ihren ehemaligen Mithäftlingen unterscheidet. Sie ist eine der wenigen im NS verfolgten Menschen of Color, deren Leben so prominent in einem Film aufgegriffen wurde.

Nadine Hwang wurde 1902 in Madrid als Tochter einer belgischen Mutter und eines aus einer einflussreichen chinesischen Familie stammenden Vaters geboren. 1913 wurde Nadines Vater in seiner Stellung als Diplomat nach China versetzt, und die Familie zieht nach Peking. Nadine war sprachgewandt, beherrschte neben Spanisch auch Französisch, Mandarin-Chinesisch und Englisch. Sie studierte Jura und lernte Autofahren, Fliegen von Kleinflugzeugen, trug gerne Männerkleidung, konnte Fechten, Reiten und Polo-Spielen und bewegte sich außerhalb von Geschlechterkonventionen. Später wurde sie als Oberst der Luftwaffe in die chinesische Armee aufgenommen, trug einen Kurzhaarschnitt und Uniform.

1933 zieht Hwang nach Paris und gelangt in den engen Kreis um die lesbische Autorin Natalie Clifford Barney, die literarische Salons für Frauen abhielt. Sie kann dort ihr Lesbischsein relativ geschützt ausleben, in einem Bericht über diese Zeit wird sie als »piratenhaft« beschrieben. Im Mai 1944 wird Hwang verhaftet und nach Ravensbrück deportiert, dort erhält sie die Häftlingsnummer 39239 und muss den roten Winkeln tragen. Warum Nadine ins Visier der Nazis geriet, ist bis heute unklar, es gibt Hinweise darauf, dass sie als Spionin für die französische Résistance tätig war. Sie überlebt das Konzentrationslager geschwächt und abgemagert.

1946 finden sich Nelly und Nadine wieder und ziehen vier Jahre später nach Venezuela, wo sie bis in die 1970er-Jahre zusammenleben. Nadine stirbt 1972 und wird in Brüssel beigesetzt, der genaue Ort ist unbekannt. Nelly stirbt 13 Jahre später.

Die berührende Doku von Magnus Gertten ist ein weiteres Puzzlestück queerer Geschichte, durch die nach und nach mit der Annahme, queeres Leben wäre eine »neue« Erscheinung, aufgeräumt wird. Wir haben sie der Tatsache zu verdanken, dass queere Geschichte immer mehr Anklang findet. Dass das nicht immer so war, erfahren wir, als klar wird, dass Nelly und Nadine schon zu Lebzeiten vorhatten, ihre Geschichte zu erzählen, und dafür aus ihren Tagebucheinträgen ein Manuskript verfasst und an verschiedene Verlage geschickt hatten. Leider stießen sie dabei auf Desinteresse und Skepsis. Zuletzt zeigt der Film, wie sehr Geschichte dem Zufall überlassen ist, denn dass wir vom Leben und Schicksal von Nelly und Nadine erfahren, haben wir einer einzigen Person – Sylvie – zu verdanken. Wie viele queere Biografien lagern noch auf den Dachböden dieser Welt?