Überlieferung ermöglichen

geschrieben von Mecki und Julia Hartung

9. März 2023

Archivsache: Zeitzeug:innen-Interviews auf Audiokassetten

Ein relevanter Teil der Bestände im VVN-BdA-Archiv in Hannover besteht aus Zeitzeug:innen-Interviews. Diese befinden sich nicht nur auf Papier, sondern auch auf Audiokassetten. Allerdings sind diese Informationsträger sehr unterschiedlich lange haltbar: Während ein schriftlich festgehaltenes Interview Jahrhunderte überdauern kann, beträgt die durchschnittliche Haltbarkeit und damit Nutzbarkeit von Audiokassetten etwa 40 Jahre. Danach droht eine sogenannte Datenkorruption. Das bedeutet, dass die auf dem Magnetband gespeicherten Interviews nicht mehr abgespielt werden können. Dieses Phänomen ist vielen Leser:innen sicher auch aus dem privaten Bereich bekannt. Es empfiehlt sich deshalb, die Audios rechtzeitig auf »langzeitarchivierungsstabile« Informationsträger zu überspielen. Der Sprecher:innenkreis der VVN-BdA in Niedersachsen hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Projekt zur Datensicherung im Archiv durchzuführen.

Alle 91 in Hannover archivierten Audiokassetten wurden von Michael Rose-Gille digitalisiert und in einer Exceltabelle erschlossen. Diese Daten können nun in die vor circa zehn Jahren angeschaffte Archiv-datenbank »Faust« übertragen werden.

Archivierte Kassette »Kurt Baumgarte, 1985«, Foto: Michael Rose-Gille

Archivierte Kassette »Kurt Baumgarte, 1985«, Foto: Michael Rose-Gille

Zu den hier vorgestellten Zeitzeug:innen-Interviews gehört auch ein Gespräch mit dem bekannten Hannoveraner VVN-BdA-Mitglied Kurt Baumgarte (1912– 2006). Die Audioqualität des Interviews aus dem Jahr 1985 ist dem Alter der Kassette entsprechend bereits sehr schlecht. Nach der Digitalisierung können Störgeräusche durch Nachbearbeitung teilweise entfernt werden.

In knapp 50 Minuten wird Kurt Baumgarte zu zentralen Stationen seines Lebensweges befragt: 1934 bis 1935 kämpfte er in der Illegalität. Er wurde verhaftet, zu Zuchthaus verurteilt, überlebte die Gefangenschaft. »Wir haben uns selber befreit«, insistiert er in dem hier vorgestellten Interview. Baumgarte nimmt einen Zeitungsartikel zur Hand und führt aus: »Sie [Carola Karg] erinnert sich ihrer Befreiung aus dem Zuchthaus Waldheim. Daran geheftet ist ein Abdruck ihres Entlassungsscheins. Unten steht: ›Revolutionäres Gefangenenkomitee des Zuchthauses Waldheim‹, darunter der Stempel der ›Kasse Zuchthaus Waldheim‹ und darunter war mein Wilhelm.« Man hört spontanes Lachen der Anwesenden.

Auch nach dem Sieg über den Faschismus blieb Baumgarte unermüdlich aktiv: Er kämpfte gegen die Remilitarisierung, für die Entschädigung von politischen Häftlingen und – entsprechend dem »Schwur von Buchenwald« – für die Ergreifung und Verurteilung von Täter:innen. Wie viele andere Kommunist:innen war er erneut von Repression und politischer Verfolgung betroffen; »Rädelsführerschaft, Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Absicht« unterstellte ihm die deutsche Justiz und verurteilte ihn aufs Neue zu einer Gefängnisstrafe. Der Kampf um Rehabilitierung begleitete ihn fortan.

Im Vergleich zu einem Text wirkt die Audioaufnahme auf besondere Weise authentisch. Es ist spannend, diesem Menschen Kurt Baumgarte zuzuhören, der druckreif – mit typisch hannoverschem Akzent – über sein politisches Leben berichtet. Im gesprochenen Text werden Sachlichkeit, Emotionen, Entrüstung und auch die Reaktionen (z. B. das oben erwähnte spontane Lachen der Anwesenden) vermittelt; all diese Informationen machen Audioaufnahmen von Zeitzeug:innen zu einer einmaligen Quelle und sind in dieser Hinsicht sogar dem geschriebenen Wort voraus. Die Audioaufnahmen bilden einen wertvollen Schatz, der darauf wartet, auch durch die wissenschaftliche Auswertung gehoben zu werden. Die jüngst erfolgte Digitalisierung stellt einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar.

Sicherlich liegen auch in weiteren Kreis- oder Landesvereinigungen ähnliche Zeugnisse und harren ihrer (Wieder-)Entdeckung. Gerne können alle Interessierten an den Online-Treffen der VVN-BdA-internen »Bundesarbeitsgemeinschaft Archive« teilnehmen. Hier tauschen sich die im Bereich der Archivprojekte Aktiven aus. Auch Erfahrungen mit der Digitalisierung und Erschließung von Audio- und Videodokumenten werden diskutiert. Vom Wissen der weiter fortgeschrittenen Archivprojekte können jene Gliederungen profitieren, deren Sammlungen noch weitgehend unerschlossen sind.