Vertrauen zerstören

9. März 2023

Interview mit Reiner Schneider von der Kampagne Entnazifizierung.Jetzt

atifa: Euer Projekt gibt es nun seit zweieinhalb Jahren. Ihr habt 850 rechte oder rassistische Vorfälle bei den deutschen Sicherheitsbehörden gesammelt, um zu unterstreichen, dass es keine Einzelfälle sind. Was sind eure Erkenntnisse darüber hinaus? Was hat euch überrascht? Gab es zum Beispiel regionale Unterschiede, besondere Netzwerke zum Beispiel mit der AfD?

Reiner Schneider: Die Menge hat uns schon überrascht. Die Skandale betreffen alle »Sicherheitsbehörden« also zum Beispiel auch die Justiz. Das wird häufig unterschätzt. Es gibt keine lokalen Schwerpunkte, aber es gibt Hotspots, wie einige Bundeswehrkasernen, Polizeireviere oder Gerichte. Sie sind die Spitze des Eisbergs, denn es sind längst nicht alle Netzwerke enttarnt. Was uns darüber hinaus immer wieder überrascht hat, ist die Dreistigkeit, mit der agiert wird. Da hat ein leitender Polizist des Staatsschutzes aus Bayern über Jahre die Reichskriegsflagge und Hakenkreuze in seinem Büro ausgestellt. Alle wussten davon, keiner hat etwas dazu gesagt, bestraft wurde er dafür nicht. Um so was zu verharmlosen und zu deckeln, wird nahezu alles in Bewegung gesetzt. Auf allen Ebenen. Mensch denke da an das Schreddern von Akten, das Entpolitisieren dieser Taten vor Gericht oder die zahlreichen Presseerklärungen von Politiker*innen, die Aufklärung versprechen und die Ausmaße verschleiern, wenn sie mantraartig von Einzeltätern sprechen.

antifa: Habt ihr den Eindruck, dass sich durch die öffentliche Kritik an der Polizei etwas an den Strukturen ändert? Gibt es mit den Verschärfungen in den Polizeigesetzen nicht sogar einen gegensätzlichen Trend: Eine Ausweitung der Kompetenzen, der Militarisierung und Sonderstellung vor dem Gesetz für die Polizei?

Die Broschüre kann kostenlos über unsere Mailadresse info@entnazifizierungjetzt.de bestellt werden.

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Reiner: Ja, aber gleichzeitig gibt es ein relativ modernes Polizeigesetz in Berlin, das zumindest versucht, die Befugnisse der Polizei einzudämmen. Die Kritik an den »Sicherheitsbehörden« nimmt zu. In den letzten Jahren wird zunehmend die Sicht der Betroffenen wahrgenommen, und das sind in Deutschland vor allem migrantische Menschen. Als die Polizei den 16jährigen Geflüchteten Mouhamed D. bei einem Polizeieinsatz in Dortmund mit einer Maschinenpistole erschoss, gingen Tausende auf die Straße. In Saarlouis haben Polizei und Staatsanwaltschaft über 30 Jahre lang versucht, den rassistischen Hintergrund eines Brandanschlags zu vertuschen. Dabei starb Samuel Yeboah. Dass es nun endlich zum Gerichtsprozess gegen einen Nazi gekommen ist, ist Antifaschist*innen zu verdanken. Sie haben nicht locker gelassen und immer wieder Aufklärung eingefordert. Der Kampf um die Rolle der »Sicherheitsbehörden« in diesem Land hat gerade erst begonnen.

antifa: In eurer neuen Broschüre »Fünfundfünfzigtausend Schuss« geht ihr vor allem auf die Kontinuitäten in der Bundesrepublik seit 1945 ein. Wer oder was prägte die Sicherheitsbehörden in der Nachkriegsgesellschaft, und warum wird man ihren Geist nicht los?

Reiner: Die Naziskandale in der Bundesrepublik ziehen sich wie ein brauner Faden durch ihre Geschichte. In den 50er Jahren wurden Nazis nicht nur nicht aus den Behörden entfernt, sondern sie nutzten ihre Positionen, um ihresgleichen wieder in die Behörden zu hieven. Nahezu die gesamte Führungsriege des BKA bestand aus ehemaligen Mitgliedern des Reichssicherheitshauptamtes, also der SS. Als die Altnazis endlich tot waren, herrschte der braune Geist weiter. Deutlich wird das nicht nur an den zahlreichen Skandalen bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts, sondern auch daran, dass noch dutzende Kasernen bis weit in die 2000er-Jahre die Namen von NS-Tätern trugen und in deren Traditionskabinetten Insignien des 3. Reichs ausgestellt waren. Im Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr (KSK) sehen sich die Soldaten bis zur Führungsriege noch heute in der Tradition der faschistischen Wehrmacht. In den zahllosen rechten Chatgruppen, in denen Hakenkreuze, rassistische Witzchen und sexistische Sprüche geteilt werden, wird die braune Dienststube in das Internet verlegt. Nazis bestärken einander in ihrem Weltbild, Nazis stellen Nazis ein, Nazis handhaben die Dinge so wie die Nazis vor ihnen, Nazis decken die Taten anderer Nazis.

antifa: Ihr geht auf eine »Copculture« innerhalb der Behörden ein. Herrscht diese Kultur nicht auch schon gesellschaftlich? Sozioökonomische, aber auch ökologische Krisen werden autoritär, mittels einfacher körperlicher Gewalt gelöst (wie in Lützerath), und viele applaudieren dazu, weil eine nichtgewaltvolle Aushandlung aus der Mode gekommen ist.

Reiner: Ich würde nicht sagen, dass die gesamte Gesellschaft von einer »Copculture« durchsetzt ist. Jedenfalls wissen wir noch nichts von erniedrigenden faschistischen Aufnahmeritualen in Kindertagesstätten oder von Ärzt*innenzimmern mit NS-Devotionalien. Was wir sagen können, ist, dass die »Sicherheitsbehörden« ein unverdientes Vertrauen in der Mehrheitsgesellschaft besitzen, das es vielen von ihnen erlaubt, nahezu ungestraft rassistisch, sexistisch und gewalttätig zu agieren. Mit unserer Broschüre wollen wir einen Beitrag leisten, dieses Vertrauen zu zerstören.

Die Broschüre kann kostenlos über unsere Mailadresse info@entnazifizierungjetzt.de bestellt werden.

Das Interview führte Nils Becker