Niemals vergessen

geschrieben von Inge Krämer

29. April 2023

Zum 30. Jahrestag des Solinger Brandanschlags

Anfang der neunziger Jahre brannten Häuser und Wohnungen in Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Hoyerswerda und schließlich auch in Solingen. Brandgeruch lag über der Stadt. Fünf Mitglieder der Familie Genç kamen dabei am frühen Morgen des 29. Mai 1993 durch das Feuer ums Leben. Mit jedem dieser Opfer, Frauen und Kinder, endete ein hoffnungsvolles Leben, das durch Rassismus und Hass zerstört worden ist. Acht Angehörige wurden verletzt.

Taten entpolitisiert

Nachdem drei Jugendliche gefasst worden waren, berichteten Regierungssprecher, aus den Vernehmungen gehe hervor, dass der Mordanschlag von »asozialen« Gewalttätern verübt wurde. Solche Gewalttäter seien nicht in Parteien organisiert, zum Teil alkoholisiert, handelten spontan und zeigten radikale Symbole, deren Bedeutung ihnen wohl gar nicht klar sei, hieß es.

Einzelfälle von alkoholisierten Jugendlichen – oder doch auch die logische Folge der offiziellen Asylpolitik? Drei Tage vor dem Solinger Brandanschlag, am 26. Mai 1993, war der sogenannte Asylkompromiss im Bundestag beschlossen worden, womit das Asylrecht faktisch abgeschafft wurde.

Es herrschte ein rassistisch aufgeheiztes Klima. Hetzkampagnen wurden gestartet. Bild titelte: »Fast jede Minute ein neuer Asylant – Die Flut steigt, wann sinkt das Boot?« Der damalige Ministerpräsident Bayerns, Edmund Stoiber (CSU), sprach im schönsten Nazideutsch von einer Gefahr der »Durchrassung und Durchmischung« der deutschen Gesellschaft. Das war der Nährboden für die Morde von Solingen. Da schlug Hass in Mord um. Der Verfassungsschutz stellte bis zum Brandanschlag mehrmals fest, dass es in Solingen keine organisierte Neonaziszene gäbe. Unglaublich!

Der VS-Spitzel Bernd Schmitt organisierte als Leiter seiner Kampfsportschule »Hak Pao«, mitten im idyllischen Solingen-Gräfrath, Neonazistrukturen mit bundesweitem Einfluss und beachtlicher Stärke. Seine Räume in Gräfrath stellte er altgedienten Nazikadern als Treff zur Verfügung. Drei von den später verurteilten Tätern des Brandanschlags trainierten in dieser berüchtigten Kampfsportschule, die den Saalschutz bei Veranstaltungen von rechten Parteien und Gruppierungen stellte.

Nach dem Brandanschlag wurden eiligst Säcke mit Akten aus Gräfrath abtransportiert. Obwohl Zeugen die Polizei sofort benachrichtigten, geschah – nichts. Erst im Dezember 1993 wurden bei Hausdurchsuchungen in Solingen 55.000 Blatt Aktenmaterial von höchster Brisanz beschlagnahmt. Wie viele aber waren bis dahin schon vernichtet worden?

Gefunden wurden Namenslisten der Neonaziszene – bundesweit, verschlüsselte Listen von Mitgliedern, Observierungsprotokolle, Handzettelaufrufe zum Bau von Molotowcocktails sowie Einsatzbefehle für Aktionen von Sachbeschädigungen bis hin zu schweren Körperverletzungen, Lageskizzen von Häusern und Wohnungen, in denen ausschließlich Migranten wohnten.

Ermittlungen ruhten lang

Schriftstücke wurden entdeckt, die Hintermänner, Geldgeber, Drahtzieher und juristische Berater entlarvten. Sorgfältig hatten Rechte aber auch Aufzeichnungen und Daten über Personen der linken Szene von Solingen, NRW und anderen Bundesländern angefertigt. Jedoch: die Ermittlungen ruhten im April 1994 immer noch!

Der 29. Mai 1993 war der Samstag vor Pfingsten. Schon am Nachmittag zog der erste Trauer- und Demonstrationszug durch die Straßen von Solingen. Viele Menschen waren schockiert, protestierten gemeinsam mit denen, die aus anderen Städten angereist waren, um ihre Solidarität zu bekunden – tagelang. In der Berichterstattung der Medien wurde ein Solingen im Ausnahmezustand gezeichnet – die Morde und ihre politischen Motive gerieten dabei in den Hintergrund.

Von engagierten Bürgern wurde der Solinger Appell gegründet, ein breites Bündnis, das bis heute aktiv ist gegen Rechtsextremismus, Rechtsterrorismus und Rassismus. 219 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 belegen deutlich: Die Gefahr ist nicht gebannt, Widerstand ist und bleibt notwendig.

Zum 30. Jahrestag des Brandanschlages sollen in Solingen vielfältige Gedenkveranstaltungen, Projekte und Ausstellungen zur Erinnerung und Mahnung stattfinden. Während das offizielle Solingen mit viel Politprominenz und einem riesigen Polizeiaufgebot, abgeschottet von der Bevölkerung, der Opfer gedenkt, rüsten sich das Bündnis Solingen 93, der Solinger Appell und die VVN-BdA Solingen für eine landesweite Demo am 29. Mai ab 12 Uhr ab Neumarkt. Das Motto: »30 Jahre danach, und die rechte Gewalt reißt nicht ab!«

Die VVN-BdA Solingen hat zum Jahrestag für den 22. Mai Wolfgang Schorlau für eine Lesung mit anschließender Diskussion eingeladen. Er verarbeitet in seinen Kriminalromanen aktuelle politische Themen. Zum Themenkomplex der NSU-Mordserie hat er in seinem Roman »Die schützende Hand. Denglers achter Fall« die Rolle von Polizei und Verfassungsschutz kritisch aufgearbeitet und Fragen zur Mittäterschaft der Staatsorgane gestellt. Die Veranstaltung findet am 22. Mai um 19 Uhr im Zentrum Frieden, Wupperstraße 120, Solingen statt.