Verschwundene Kinder
29. April 2023
Eltern halten Nachwuchs von Schulen fern und orientieren sich an rechten Lernkonzepten
Viele Eltern aus verschwörungsideologischen Zusammenhängen verweigern ihren Kindern seit der Pandemie den Zugang zu Schulen. Sie gründen illegale »Lernorte«. Ideologisch wird sich auch an völkisch-reaktionären Lernkonzepten wie der »Schetinin«-Pädagogik orientiert.
Sie verschwanden einfach aus ihrem gewohnten Umfeld: Kinder von Corona-Leugnenden und Verschwörungsgläubigen. Seit der Corona-Pandemie ist der Verbleib vieler Kinder ungeklärt. Das strategische Verweigern von Masken, Test- und Impfpflicht ermöglichte es Tausenden von Eltern, den eigenen Nachwuchs dauerhaft den Schulen fernzuhalten. Auch nach dem Ende der Seuche kehren Kinder nicht zurück. Manche sind »dauerhaft reisend«, unterwegs mit ihren Eltern, die dem rechten »Querdenken«- und Verschwörungsmilieu zugerechnet werden.
Kinder »ins unbekannte Ausland« abgemeldet
Eine Mutter aus Mecklenburg-Vorpommern hat sich und ihre beiden jüngsten Kinder »ins unbekannte Ausland« abgemeldet und befindet sich auf der Flucht durch Europa – nur um ihre Kinder nach dem Ende der Pandemie nicht wieder in eine Schule schicken zu müssen. Die Aktivistin der rassistischen »Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft« hatte seit Jahren erfolglos versucht, ein Genehmigung für »Homeschooling« zu erhalten. »Diese Schülerin«, berichtet die Schulleiterin eines Gymnasiums aus Niedersachsen über einen weiteren Fall, »haben wir seit fast zwei Jahren Jahr nicht mehr gesehen«. Sie weist darauf hin, dass die Eltern keinesfalls gewillt seien, den Strafbefehl wegen Verstoßes gegen die Schulpflicht zu bezahlen. Das Mädchen möchte zurück, doch die Eltern behaupten, das Kind würde dann einer »Hetzjagd« ausgesetzt.
Eine Mutter kündigte ihren Job und zog mit ihrer Tochter in den Wald. Dem Kind fehlten fast zwei Jahre lang Außenkontakte, es befindet sich jetzt in Therapie. Im Netz tauschen sich »Auswanderer-Eltern« aus, die Deutschland hinter sich lassen möchten, um ihren Kindern »Freilernen« und »Frei leben« in Ländern wie Österreich (siehe Randspalte), Paraguay oder Russland zu ermöglichen.
Rowena Jentgens aus dem Allgäu steht der »Querdenken«-nahen Organisation »Eltern stehen auf« nahe. Jentgens rief bereits im Dezember 2021 in einer Onlinesendung des »Levana Verbunds – Elternstammtische für Impfaufklärung« dazu auf, während der Corona-Pandemie möglichst zahlreich illegale Lerngruppen und Schulen zu gründen. Das war in einem Gespräch mit Rolf Kron, einem Arzt und schwäbischen Verschwörungsideologen, der den Nationalsozialismus relativiert und auf der Bühne einer »Querdenken«-Veranstaltung den Hitlergruß gezeigt hat.
Jentgens appellierte öffentlich, viel mehr Eltern sollten ihre Kinder aus den herkömmlichen Bildungseinrichtungen nehmen, »um damit dem System Stacheln ins Getriebe zu setzen«. Tatsächlich wurden illegale Schulen mit bis zu 50 Kindern unter anderem in Esslingen, Essingen, Rosenheim, Gablenz, Neudorf im Erzgebirge, Rechenberg und Erlangen von den Behörden ausfindig gemacht und geschlossen. Die Partei Die Linke in Sachsen warf dem Kultusministerium im März 2023 vor, nicht energisch genug gegen illegale Schulen und Lerngruppen vorzugehen. »Das Kindeswohl ist gefährdet«, betont Fraktionschef Rico Gebhardt. »Eltern verbauen Kindern den Lebensweg, wenn sie diese nicht in die Schule gehen lassen.«
Die umtriebige Netzwerkerin Rowena Jentgens besuchte am 7. Februar 2023 erneut Krons Onlinesendung und berichtete über ihre vergeblichen Versuche, Untergrundschulen in Bayern zu gründen. Neun Monate lang habe die Mutter von vier Kindern heimlich eine Lerngruppe mit zeitweilig 30 Kindern bei sich zu Hause unterhalten. Dann sei sie das Projekt Schule angegangen. »Ich hatte am Ende 120 Familien, die schon Vorverträge und Darlehensverträge vorgelegt hatten, zwölf Lehrer und konnte mit unternehmerischer Unterstützung einen Schulcontainer kaufen«, behauptete sie und ergänzte, der Container würde jetzt im Allgäu verrotten. Das Projekt scheiterte an den Behörden. Doch sie kündigte an: »Es gibt viele, die ihre Kinder noch zu Hause haben.«
Gründung von »Onlineschulen«?
Die aus Mühlhausen stammende Rechtsanwältin Katja Senkel reichte eine Petition mit dem unauffälligen Titel: »Etablierung informeller Bildungsmöglichkeiten für junge Menschen in Thüringen« ein. Vordergründig geht es um die Möglichkeit der Gründung von »Onlineschulen«. Bis Ende 2022 hatten 4.213 Menschen die Petition unterzeichnet. Sie war damit erfolgreich. Am 2. März 2023 fand die Petitionsanhörung im Thüringer Landtag statt. Neben Senkel stellten unter anderem Prof. Dr. Gerald Hüther, Neurobiologe, der Philosoph Bertrand Stern und die Pädagogin Karen Kern die Petition vor. Alle drei treten immer wieder im rechtsoffenen Freilerner-Spektrum bei Kongressen und Veranstaltungen auf.
Der Vorstoß von Senkel und Co. wird auch vom extrem rechten Zusammenschluss »Freies Thüringen« gefeiert. Es sei eine Initiative im Thüringer Landtag, heißt es, »die wir tatkräftig unterstützen wollen«. Gemeinsam sollen Kinder und Jugendliche »vor staatlichen Übergriffen« geschützt werden.
Das Hamburger Magazin stern berichtete am 1. Dezember 2022, die Rechtsanwältin Katja Senkel sei noch vor kurzem als »Teammitglied« eines Vereins geführt worden, der dem arisch-esoterischen »Anastasia«-Kult und dem damit verbundenen Schulkonzept von Michail Petrowitsch Schetinin nahesteht (siehe antifa-September/Oktoberausgabe 2022). Der Verein heißt »Gaudium in Vita« und unterhält ein ehemaliges Landschulheim im niedersächsischen Lüsche bei Gifhorn. Das Gelände in Lüsche gilt nach einer Enthüllung durch das Fachorgan Blick nach rechts als »Kaderschmiede« für illegale Schulgründungen nach russischem Vorbild. Über die ehemalige »Gaudium in Vita«-Frau Katja Senkel sollen laut stern Spendengelder gesammelt worden sein, Verwendungszweck: »Gesetzentwürfe Selbstbestimmtes Lernen«.
Senkel gab sich gegenüber dem stern empört, will den Verein »Gaudium in Vita« aufgefordert haben, ihren Namen zu löschen. Doch Senkels Thüringer Petition haben auch Gaudium-Betreiber Nicole und Steffen Wolf aus Lüsche unterschrieben. Nach Zwist klingt das nicht. Im Gegenteil: Anfang März 2023 bewerben die Wolfs in ihrem Telegram-Kanal »Gaudium in Vita – Aktuell« begeistert, die von ihrer ehemaligen »Team-Kollegin« initiierte Petitions-Anhörung im Thüringer Landtag.
Spirituelles Konzept: »Gesamtes Wissen in sich«
Das spirituelle Konzept der Schetinin-Pädagogik geht davon aus, dass Kinder »bereits das gesamte Wissen in sich« tragen. Durch eine Verbindung mit dem Kosmos sei es ihnen durch die Geburt zugetragen, es müsse nur abgerufen werden. Bei Schetinins »Lyzeum«, einer Privatschule im russischen Tekos am Schwarzen Meer, handelte es sich um ein Internat mit selbstgebauten Gebäuden, darunter auch ein »Germanisches Haus«. Kinder und Jugendliche wurden entsprechend einem bio-logistischen Geschlechtsverständnis unterrichtet. Stockkampf und Kampfsport für die Jungen, nachts wurden sie für einen Wachdienst abgestellt. Die vermeintlich lockere Pädagogik verlangt Härte und Gehorsam. Ein Szenevideo aus dem Jahr 2012 zeigt das von dem Musiklehrer Schetinin gegründete »Lyzeum« in Tekos. Ein 13-jähriger Junge hört auf, den Boden mit einem Feudel zu wischen, als der Interviewer erscheint. Er stellt sich aufrecht hin und sagt ins Mikrofon dubiose Sätze wie: »Die Welt ist ein großer Kristall. Physik und Mathematik dienen als Maß, mit welchem wir diesen Kristall betrachten.« Dann möchte er noch hinzufügen: »Ich habe die Gabe, dass ich die Energiezentren der Menschen öffnen kann. Auch kann ich mit Bäumen und Pflanzen reden«. Die Befragten werden als schulische Überflieger präsentiert. Als vorbildliche, brave Jugendliche, die sehr strebsam vor allem über Physik und Mathe sprechen. Ein Mädchen behauptet, mit elf Jahren an einer Universität aufgenommen worden zu sein. Sie alle betonen, alles dieser Schule zu verdanken.
Wundersame Lernkonzepte
2019 erfolgte die Schließung, laut dem Informations-dienst Psiram (früher Eso-Watch) »wegen Nichteinhaltung von Brandschutzauflagen, fehlender Lehrbücher und der erforderlichen Qualifikation der Lehrkräfte«. Die orthodoxe Kirche in Russland bezeichnete Schule und Gründer mehrfach als Sekte. Ehemalige Schülerinnen hatten in russischen Medien über erlittene Körperstrafen, Kampfübungen oder Postzensur gesprochen. Dennoch wabern die wundersamen Lernkonzepte des im selben Jahr verstorbenen russischen Pädagogen Michail Petrowitsch Schetinin für ein »freies, selbstbestimmtes Lernen« unaufhaltsam durch die europäische Freilerner-Szenen. Im »Handbuch Weltanschauung«, herausgegeben von Matthias Pöhlmann und Johannes Goldenstein, heißt es: »Schetinin war überzeugter Anastasianer«. »Wir werden den Deutschen helfen aufzuwachen«, wird Schetinin von einem Jünger zitiert.
In der »Anastasia«-Buch-Anthologie stellen die slawischen »Weden« eine höherwertige Kultur dar, ein privilegiertes, weißes Volk. »Wir – Asiaten, Europäer, Russen und diejenigen, die sich vor kurzem Amerikaner genannt hatten, sind in Wirklichkeit Menschen-Götter aus einer Zivilisation der Wedrussen«, schrieb Wladimir Megre 2007.
Alexander Dugins Idee vom Neo-Eurasismus
Die Idee des Neo-Eurasismus entwickelte der extrem rechte russische Philosoph Alexander Dugin. Die Wedrussen sollen seinen Ideen zufolge das Pendant zur vermeintlich liberalen Zivilisation unter jüdischer Vorherrschaft darstellen. Entsprechend der großen Nachfrage bieten Organisationen wie Ricardo Leppes »Wissen Schafft Freiheit«, Josef Barts »ISKA – Internationale Schul-, Sport- und Kultur-Akademie« oder Richard Kandlins »KiEP – Kinder entwickelter Pädagogik« Schetinin-nahe Lehrgänge an. Kandlin, der selbst in Tekos studiert hat, behauptet: »Erst, wenn man verstanden hat, was die Aufgabe, der Charakter eines Mannes ist und die Aufgabe und Charakter eines Mädchen ist, dann darf man sie auch mischen. Das ist auch produktiver, weil sie dann wissen, wozu sie in Kontakt treten, wozu sie so ein Beziehungsspiel spielen.«
Für den Pädagogik-Coach gehören Mathematik, Chemie und Physik in die Kategorie Wahrheit. Geschichte oder Wirtschaft seien erfundene Wissenschaften, »die auf dem Planeten Erde herrschen«, berichtet er in einem Lehrfilm. Erfunden heiße nicht, so Kandlin auf Nachfrage aus dem Tagungsraum, dass es gut oder schlecht sei, es sei eben »erfunden«. Eine insbesondere im Hinblick auf die Shoa gefährliche bildungspolitische Einschätzung.
Blick nach Österreich
Im Kanal »Aufgewacht mit Birgit Doll« wurde bereits im September 2021 neidisch auf ein deutsches Nachbarland geschaut: »Kleine Ösis lernen daheim. Morgen beginnt in Österreich wieder die Schule«, doch tausende Familien, »die mit verschiedenen Zwangsmaßnahmen nicht einverstanden« seien, würden ihre Kinder nicht hinschicken. Einfach abmelden und nach Gutdünken zu Hause unterrichten – diese Vorstellung entspricht der Sehnsucht vieler Eltern, die nicht nur das Bildungs-, sondern zumeist das ganze deutsche »System« ablehnen und aus politischen Gründen die Bildung ihrer Kinder in die eigene Hand nehmen wollen. Die Pläne dazu werden in unzähligen Chatgruppen ausgetauscht. Anders als in der Bundesrepublik ist Homesschooling in Österreich zulässig. Es gibt dort nur eine Unterrichtspflicht, keine Schulpflicht.