Falsche Ehrfurcht verlieren
11. Juli 2023
Gedenken auf TikTok im Wandel der Zeit. Ein antifa-Gespräch mit Susanne Siegert
antifa: Du recherchierst zu einem der größten ehemaligen Außenlager des KZ Dachau, Mühldorfer Hart, und veröffentlichst deine Ergebnisse auf TikTok. Mittlerweile erreichst du mit deinen Videos hunderttausende, zum Teil über eine Million Menschen. Hättest du mit einem so großen Erfolg gerechnet?
Susanne Siegert: Ehrlich gesagt nicht. Ich habe das erste TikTok-Video, eine Kritik an dem Film »Der Junge im gestreiften Pyjama«, im Herbst 2022 als Test hochgeladen und wollte mal schauen, was passiert. Ich dachte eher, das Thema ist zu speziell. Das Video hatte dann aber 600.000 Views, was mich sehr überrascht hat. Dadurch habe ich gemerkt, dass es sehr wohl Interesse daran gibt, und alles nahm schnell an Fahrt auf. Mittlerweile veröffentliche ich jeden zweiten Tag ein Video.
antifa: Wie bist Du auf die Idee gekommen, den Account zu starten?
Susanne: Ich bin in Oberbayern geboren, im Nachbarlandkreis von Mühldorf am Inn. Trotzdem habe ich erst spät erfahren, dass sich ganz bei mir in der Nähe das ehemalige Lager Mühldorfer Hart befindet, in dem 8.000 KZ-Häftlinge gewesen sind. Vielen meiner Bekannten ging es ähnlich. So kam die Idee für den Account. Auch, wenn es sich um ein vergleichbar kleines Lager gehandelt hat, kann man jeden Tag etwas Neues erzählen. Das ist meine Motivation, dass ich die Namen und Geschichten der ehemaligen Häftlinge noch mal aufgreifen kann.
antifa: Gab es bestimmte Vorbilder oder Accounts, die dich inspiriert haben?
Susanne: Nein, ich habe es eher gemacht, weil es eben keine Vorbilder gab. Ich finde, Gedenkarbeit ist im Social-Media-Bereich noch nicht genug vertreten. Ich verstehe auch, dass Gedenkstätten viele Bereiche abdecken müssen, verbunden mit einem oft geringen Budget, da stehen TikTok und Instagram meist weit unten auf der Prioritätenliste. Ich finde es trotzdem verwunderlich, dass viele Gedenk-orte lieber eine »Augmented Reality«-Ausstellung oder Ähnliches aufbauen, als sich bewusst zu werden, dass sie mit einem TikTok-Video vielleicht eine viel größere Reichweite haben könnten. Es ist nicht zu vernachlässigen, was man da an Botschaften vermitteln kann.
antifa: In einem Interview hast du gesagt, man solle nicht mehr von Erinnerungskultur sprechen, weil nur erinnert werden könne, was man selbst erlebt hat, vielmehr gehe es ums Gedenken. Dein Account heißt dementsprechend »keine.erinnerungskultur«. Was macht den Unterschied zwischen Erinnern und Gedenken für dich aus, und warum lehnst du ersteres als Begriff ab?
Susanne: Den Gedanken habe ich zum ersten Mal in einem Podcast-Interview mit Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, gehört. Erinnern ist für mich ein eher schwammiger Begriff. Erinnerungs- und Gedenkarbeit wird sich verändern, wenn keine Zeitzeug*innen mehr leben und dementsprechend muss auch eine Veränderung in der Wortwahl stattfinden. Es ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn wir als Nachfahren – sowohl der Täter*innen als auch der Opfer – für das, was wir machen, einen anderen Begriff als »Erinnern« benutzen.
antifa: Du kritisierst klassische Gedenkveranstaltungen als zu rituell, weil sie den gleichen Mustern folgen. In einem Interview sagtest Du: »Du kommst irgendwo hin, eine Geigerin spielt den Soundtrack von Schindlers Liste, dann werden dieselben Zitate von denselben fünf Holocaustüberlebenden vorgelesen, eine Rose wird abgelegt, eine Rede gehalten und am Ende noch ein Post mit dem Hashtag #Niewieder veröffentlicht.« Deshalb forderst du ein aktives Gedenken. Wie sieht das für dich aus?
Susanne: Rituelles Gedenken hat auch seine Berechtigung. Ich höre von einigen Gedenkorten zum Beispiel, dass gerade Angehörigen von Überlebenden und Opfern eine rituelle und zurückhaltende Form des Erinnerns sehr wichtig ist. Zusätzlich brauchen wir meiner Meinung nach aber noch etwas anderes. Aktives Gedenken kann zum Beispiel darin bestehen, dass man über aktuelle Themen wie Antisemitismus und jüdisches Leben in der Gegenwart spricht oder dass Angebote gemacht werden, damit Menschen ihre eigene Familiengeschichte recherchieren können.
antifa: Du erreichst mit deiner Arbeit so viele Menschen. Warum wird Gedenkarbeit auf Social Media oft noch belächelt? Und warum ist sie wichtig?
Susanne: Mein Eindruck ist, dass viele mit TikTok noch tanzende Jugendliche verbinden und lustige Videos mit Musik. Das ist es schon längst nicht mehr, war es vielleicht auch nie nur. Man muss sich bewusst machen, wie viele gesellschaftlich relevante Themen – Queer-, Trans-, Behindertenfeindlichkeit und Rassismus zum Beispiel – auf diesen Plattformen eine große Bühne finden. Es ist eine riesige Chance, eine große und vor allem junge Zielgruppe zu erreichen.
antifa: Was sind Herausforderungen bei der Verbindung von Gedenkarbeit und Social Media?
Susanne: Natürlich kann man in 90 Sekunden vieles nicht abbilden, aber das ist auch okay. Wenn ich Lehrerin wäre, würde ich ja auch Dinge weglassen. Was ich mich oft frage: Wo ist die Grenze des guten Geschmacks? Vieles funktioniert auf den Plattformen anhand von Trends, schnellen Schnitten, Soundeffekten, etc. – das kann bei dem Thema schnell deplatziert wirken. Aber auch da muss man die falsche Ehrfurcht verlieren. Es ist wichtig, geschmackvoll an das Thema ranzugehen. Ich finde aber, dass man sich ein bisschen mehr trauen darf. Ansonsten wird man einfach untergehen in der Masse an Videos und Inhalten. Es ist wichtig, die Sprache der Plattform zu sprechen, um gesehen und gehört zu werden.
Ihr könnt Susanne Siegert auf Social Media folgen.
TikTok @keine.erinnerungskultur, Insta @kz.aussenlager.muehldorf. Ihren Podcast »zeitzeug:nisse« gibt es auf Spotify.
KZ-Gedenkstätte Mühldorfer Hart: www.kz-gedenk-mdf.de
Das Gespräch führte Hannah Geiger