»Wunderbar« oder »fremd«
11. Juli 2023
Zur jüdischen Tradition und Gegenwart in Tunesien
»Bei einem Angriff vor der ältesten Synagoge Afrikas auf der tunesischen Insel Djerba sind mehrere Menschen getötet worden«, meldeten Anfang Mai deutsche Medien. Es folgten ein paar Details zum Anschlag. Jedoch keine Informationen zum Hintergrund und der Geschichte des Ereignisses, bei dem der Anschlag geschah.
Im vergangenen Jahr berichtete die Rosa-Luxemburg-Stiftung unter dem Titel »Vergessene Juden« über eine Konferenz des Jüdische Komitees der Stadt Nabeul (im Nordosten Tunesiens), die sich alten jüdischen Kulturorten wie Synagogen oder Friedhöfe in Tunesien widmete.
Tatsächlich lebten nach dem Zweiten Weltkrieg noch über 100.000 Juden in dem nordafrikanischen Land (mal wird auch eine Zahl von 140.000 oder sogar 200.000 genannt). Erst nach dem Sechstagekrieg 1967 verschlechterte sich die Situation zwischen Muslimen sowie Juden, und ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung verließ das Land. Heute leben noch schätzungsweise 2.000 Juden in Tunesien, der größte Teil auf der Insel Djerba.
Auf dieser Insel befindet sich die älteste erhaltene Synagoge auf afrikanischem Boden, in dem Dorf Er-Riadh. Die Synagoge wird el-Ghriba genannt, Ghriba bedeutet auf Arabisch »wunderbar« oder »fremd« und spiegelt die besondere Bedeutung der Synagoge in den jüdischen Traditionen von Tunesien wider. Die Ghriba ist die berühmteste von etwa 20 Synagogen, die in den drei jüdischen Dörfern auf Djerba bis in die 1950er-Jahre genutzt wurden. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts an der Stelle der alten antiken Synagoge errichtet und besteht heute aus zwei bedeckten Sälen in einem äußerlich bescheidenen Gebäude. Der zweite Saal entstand durch Umbauten aus einem ehemaligen Innenhof. Dafür wurde im Nebengebäude ein großer Innenhof mit bedeckten Loggien (ebenfalls aus dem Ende des 19. Jahrhundert) errichtet. Dort waren lange Zeit Pilgerunterkünfte eingerichtet.
Die Besonderheit der Synagoge ist, dass sie nicht nur ein beliebtes touristisches Ziel ist, sondern eine besondere Wallfahrt jüdischer Pilger hierher stattfindet. Hintergrund ist die Geschichte der Juden auf Tunesien. Der Legende nach kamen sie nämlich bereits im 6. Jahrhundert vor unserer Zeit, als Hohepriester nach der Zerstörung des salomonischen Tempels durch die Babylonier unter Nebukadnezar II. im Jahre 586 vor unserer Zeit nach Tunesien flohen. Dabei sollen sie eine Tür und einen Stein des Altars des zerstörten Tempels mitgebracht haben. Heute wird Besuchern ein Stein in einem der Gewölbe der Synagoge gezeigt, der als Bindeglied zwischen Jerusalem und der jüdischen Diaspora angesehen wird. Ähnlich christlichen Wallfahrtsorten wird auch hier von einer Reihe von Wundern berichtet, so von einem jüdischen Mädchen, das zwar bei einem Brand in einer Hütte verstarb, aber der Körper in der abgebrannten Hütte erhalten blieb.
Ende des 19. Jahrhunderts, als Djerba französische Kolonie war, entstand ein Verwaltungsausschuss der Synagoge der jeweils am 33. Tag nach dem Pessach-Fest, am »Halbfeiertag« Lag baOmer, eine Wallfahrt organisierte. Dabei werden die Einnahmen der Wallfahrt an die alten Einwohner des Dorfes ausgezahlt, unabhängig von ihrer Religion.
Lag baOmer ist ein fröhliches Fest. Die verschiedenen einschränkenden Gebote der Trauerzeit, die für die 49 Tage zwischen Pessach und Schawuot gelten, sind an diesem Tage aufgehoben. Kinder und Erwachsene veranstalten Picknicks und versammeln sich um Lagerfeuer. Vor allem aber können an diesem Tag Hochzeiten durchgeführt werden – ein Angebot, von dem reichlich Gebrauch gemacht wird. Und so findet auch zur Wallfahrt, zu der heute vor allem viele Juden aus Ländern, in die Familien in den 1950er-Jahren emigrierten, kommen, ein großes fröhliches Fest statt. Es dient auch heute gelegentlich als »Heiratsmarkt«.
Für einen auch heute wichtigen Brauch ist der Ursprung nicht mehr wirklich zu finden. Pilger und Besucher kaufen rohe Eier und beschriften sie, beispielsweise mit ihren Wünschen, auf hebräisch, lateinisch oder arabisch. Oft auch mit den Namen des Gebers. Dann werden diese Eier in eine kleine Grotte in der Synagoge gelegt. Am folgenden Tag werden sie herausgeholt. Ein Besucher aus Paris erzählte dem Reporter des Deutschlandfunks vor Jahren: Die kommen dann in den Kühlschrank und werden mit zurück nach Paris genommen und gegessen. Man muss sie nämlich essen, damit der Wunsch in Erfüllung geht.
Eine Besonderheit auf Djerba ist jedoch, dass nicht nur Juden zu diesem Fest kommen. Eine Besucherin äußerte sich beispielsweise: »Ich bin zwar Muslimin, aber die Juden hier im Ort sind unsere Nachbarn, deshalb feiern wir mit«. Und am Vorabend des Festes gibt es im Dorf ein großes gemeinsames Straßenfest. Aber auch im täglichen Leben lebt diese interreligiöse Nachbarschaft. So besuchte ich in diesem Jahr eine staatliche Grundschule, in der muslimische und jüdische Kinder natürlich gemeinsam unterrichtet werden. Allerdings gab es in der Nähe schon lange auch eine Talmud-Schule für männliche Jugendliche als Ergänzung. Neu ist seit kurzem im Ort eine jüdische Mädchenschule, die sich allerdings ebenfalls als Ergänzung zur staatlichen Schule sieht. Drei neunjährige Mädchen hatten unsere dreiköpfige Journalist:innengruppe (natürlich erkennbar fremd) angesprochen und uns, um »etwas zu zeigen«, zu ihrer Schule geführt.
Das gute Zusammenleben der Juden und Moslems auf Djerba ist natürlich auf die Geschichte zurückzuführen. Über 1.000 Jahre vor der Entstehung des Islam lebten die Juden bereits im heutigen Tunesien. Gemeinsam mit der Ursprungsbevölkerung der Amazigh, was in ihrer Sprache »freier Mensch« bedeutet. Von außen erhielten sie die Bezeichnung »Berber« aus dem griechischen Barbaren, eine wenig schmeichelhafte Benennung.
Die Wallfahrt bei el-Ghriba ist ein besonderes Ereignis vor allem für die Familien aus Europa und Amerika, die sich hier treffen. Im Mittelpunkt steht dabei ein Wagen mit mehreren Menoras. Ein Herr mit weißem Hemd und Kippa versteigert einfache Tücher, Schals, Bilder, blecherne Menoras oder billige Weihrauchgefäße. Frauen treiben sich bei der Auktion gegenseitig im Preis hoch. Denn es geht darum, die ersteigerten Gegenstände dann auf dem Wagen zu drapieren, der an der Spitze einer Prozession um die Synagoge getragen wird. Und natürlich wird alles fotografiert, am besten mit den Spenderinnen als Selfies, und sofort bei Facebook oder Instagram gepostet. Im ersten Saal der Synagoge warten die Gläubigen einstweilen vor einer Bank, auf der zwei Rabbiner sitzen. Gegen eine kleine Spende sprechen sie ein Gebet. Anschließend erhält man vom Rabbiner einen kleinen Feigenschnaps. Ein Getränk, das auch bei den Feiern außerhalb eine wichtige Rolle spielt.
Auf Djerba bangten die schockierten Einwohner jetzt, dass durch den erneuten Anschlag (2012 gab es einen Brandanschlag von Al-Qaida, allerdings nicht zum Fest, es gab 21 Tote, darunter zwölf Deutsche) Angst entstünde, Djerba zu besuchen. Doch das Attentat in diesem Jahr hatte andere Hintergründe. Ein wegen islamistischer Tendenzen vom Dienst suspendierter Sicherheitsbeamter der maritimen Nationalgarde hatte, offensichtlich als Reaktion auf die Suspendierung und die Einleitung von Ermittlungen gegen ihn, einen Kollegen seiner Einheit erschossen, sich dessen Waffe und Munition angeeignet und war in die Nähe der hochgesicherten Synagoge gefahren. An der ersten Sicherheitsabsperrung erschoss er einen weiteren Polizisten, um dann auf dem Parkplatz um sich zu schießen. Doch schon 120 Sekunden nach Beginn der Schießerei trafen ihn Kugeln der Polizei. Leider hatte er vorher zwei Pilger, einen Tunesier und einen Franzosen, erschossen. Wenige Tage nach dem Ereignis ging vor Ort bereits wieder alles seinen gewohnten Gang.
Ein Besuch der Synagoge auf Djerba ist – nicht nur zu dem jährlichen Fest – zu empfehlen, ein wirklich besonderes Urlaubserlebnis. Und darauf hoffen viele in Tunesien. Dass man das Land nicht mehr nur wegen eines preiswerten Badeurlaubs, sondern auch wegen seiner vielfältigen Geschichte und Kultur besucht.
Fotos: Karl Forster
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