Himmel und Hölle
13. September 2023
Über die selbstverwaltete jüdische Gemeinde Schtetl von 1945 bis 1957 in Bayern
Es gab einmal im Deutschland nach dem Holocaust im Bundesland Bayern eine jüdische Gemeinde (Schtetl) mit mehreren tausend Bewohner_innen. Es waren Überlebende der NS-Massenvernichtung, die dort Zuflucht und Sicherheit fanden. Der Ort hieß Föhrenwald, ein Stadtteil in der Kreisstadt Wolfratshausen, 29 Kilometer Luftlinie entfernt von München, elf Kilometer vom Starnberger See. Von 1945 bis 1957 lebten die Jüdinnen und Juden im damals größten europäischen Schtetl selbstverwaltet. Und sie standen unter dem besonderen Schutz der US-amerikanischen Befreier. Deutsche Verwaltung und Polizei hatten keinen Zutritt.
Zur Vorgeschichte des Lagers: Es wurde 1939 als NS-Mustersiedlung errichtet; als Wohnort für Arbeitskräfte in nahe gelegenen Rüstungsbetrieben. Später kamen deportierte Zwangsarbeiter_innen hinzu. Als im Mai 1945 die NS-Lagerhäftlinge aus dem KZ Dachau auf einem »Todesmarsch« in Richtung Alpen getrieben wurden, war das Lager zum ersten Mal Zufluchtsort für die, die überlebt hatten.
Schließlich wurde das Lager von der US-amerikanischen Militärverwaltung zum »Jewish Displaced Person Center« erklärt. Im Januar 1946 hatte das Schtetl mit über 5.000 Bewohner_innen seinen Höchststand erreicht. Das Lager verfügte über nahezu alle Einrichtungen für das alltägliche Leben; unter anderem über mehrere Synagogen für die verschiedenen jüdischen Glaubensrichtungen (Orthodoxe, Ultraorthodoxe, Liberale, Sozialisten, Zionisten). Auch eine Religionsschule und eine Hochschule für jüdische Theologie gab es. Selbstverständlich verfügte das Schtetl zudem über Gebäude für Versammlungen, Familienfeiern und religiöse Feste.
Die Zeitzeugen, die noch gern über Föhrenwald erzählen, sind heute 70 bis 80 Jahre alt. So auch Abraham Ben im Buch »Föhrenwald, das vergessene Schtetl« von Alois Berger: »Föhrenwald war eine große Familie. Föhrenwald war für uns Kinder der Himmel auf Erden, für die Erwachsenen war’s die Hölle. Weil, sie wussten ja nicht, wie es für sie weitergehen wird. Sie haben das Schlimmste erlebt und steckten jetzt fest im Land der Täter, wo sie nie sein wollten« (S. 47).
Auch berühmte jüdische Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur fanden nach 1945 im Lager Föhrenwald Zuflucht: zum Beispiel die Bielski-Brüder, die als Partisanen in den Naliboki-Wäldern (jetzt Teil von Belarus) mehr als 1.200 Juden vor der SS gerettet hatten. Stolz zitiert Assaela Weinstein, Tochter eines der Bielski-Brüder, die damaligen Partisanenbrüder, wie sie jeweils vor einem ihrer gefährlichen Rettungseinsätze gesagt haben: »Es ist nicht unser Job, die deutsche Armee zu besiegen, unser Job ist, dass möglichst viele überleben« (S. 172). Und sie erzählt vom wichtigsten Leitsatz der Partisanen: »Den Deutschen nicht lebend in die Hände fallen« (S. 170).
1951 übergab die US-amerikanische Verwaltung ihre Schutzfunktion über das Lager an die deutschen Behörden. Das markierte einen Wendepunkt des jüdischen Lebens im Schtetl. Hierüber schreibt Berger, dass es schien, »als hätten einige Beamte der Sicherheitsorgane nur darauf gewartet, endlich Zugriff zu haben. (…) Die Razzien, die es nun plötzlich gab, zeigten die ganze Verachtung gegen Juden, die in deutschen Behörden noch immer kochte« (S. 202).
1957 wurden die letzten Bewohner_innen genötigt, ihr Schtetl zugunsten von katholischen »Heimatvertriebenen« zu räumen. Ein »Deal« zwischen dem Freistaat Bayern und der katholischen Kirche (Erzdiözese München und Freising) machte das möglich: Um wirklich alles Erinnern an dieses vielfältige jüdische Leben in Föhrenwald auszulöschen, einigten sich die katholische Kirche und die bayrische Staatsregierung auf die Umbenennung aller Straßennamen und sogar des Ortsnamen selbst: Föhrenwald hieß fortan Waldram. Die Haupt-»Synagoge wurde zur Kirche, über Nacht sei auch der Davidstern (…) verschwunden, irgendjemand habe ihn abgesägt« (S. 45).
Der Autor des Buchs ist 1957 in der Kreisstadt Wolfratshausen geboren und aufgewachsen. Ihm wurde dieses Kapitel der deutsch-jüdischen Diaspora über Jahrzehnte hinweg verschwiegen. Das aktive Beschweigen der Schtetl-Geschichte war allgemein geltende Norm in Wolfratshausen. Alois Berger über sein Leben in der Stadt: »Juden kamen in diesem Leben nur am Rande vor, genauer: um Ostern. Da erinnerten die Pfarrer daran, dass es Juden waren, die vor knapp 2.000 Jahren unseren Herrn Jesu ans Kreuz schlagen ließen« (S. 10).
Erst als Erwachsener bekam er Kontakt zu den Gründungsaktivistinnen des erinnerungskulturellen Vereins »Bürger für Föhrenwald«. Dieser konnte 2018 ein kleines Museum im ursprünglichen Badehaus – inklusive Ritualbad (Mikwe) – von Föhrenwald einrichten, etwa 60 Jahre nachdem die letzten Jüdinnen und Juden ihren Zufluchtsort verlassen mussten.
Als dem Verein 2022 im Berliner Abgeordnetenhaus der US-amerikanische Obermeyer-Award für den Einsatz gegen Antisemitismus und zur Wahrung des Gedenkens an die jüdische Vergangenheit verliehen wurde, da – so schreibt Berger – »waren sie auch im Wolfratshauser Rathaus richtig stolz« (S. 225).