Im Alltag präsent
14. September 2023
Die internationalistische Chile-Solidaritätsbewegung vor 50 Jahren
Die Zeile »El Pueblo Unido Jamás Será Vencido« (ein geeintes Volk wird niemals besiegt werden) des gleichnamigen populären Songs der chilenischen Gruppe Quilapayún war vor 50 Jahren vielfach zu hören. Linke unterschiedlicher Couleur verfolgten das Wirken der sozialistischen Regierung der Unidad Popular in Chile unter Präsident Salvador Allende mit großer Aufmerksamkeit und Begeisterung. Als mit dem CIA-gesteuerten Militärputsch unter General Augusto Pinochet am 11. September 1973 eine faschistische Militärherrschaft errichtet wurde, war das Entsetzen auch in Europa groß. Wie in der damaligen Zeit üblich, gab es in der BRD natürlich Debatten, ob die Allende-Regierung nicht selbst Fehler gemacht habe, warum sie die Bevölkerung zum Schutz der revolutionären Entwicklung nicht bewaffnet und die reaktionären Militärs nicht entmachtet habe. Dabei waren diese Debatten nicht nur mit den Ereignissen in Chile selbst, sondern auch mit der eigenen Vorstellung von der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung in Europa verbunden. Kann es einen nicht-revolutionären Weg zum Sozialismus geben?
Politische Offenheit
Doch solche Kontroversen traten sehr bald in den Hintergrund, als es darum ging, Solidarität mit den verfolgten chilenischen Antifaschisten zu entwickeln. Als Instrumente entstanden Chile-Solikomitees, in denen sich deutsche Internationalisten und Geflüchtete gemeinsam für in der BRD lebende chilenische Demokraten und für Verfolgte in Chile selbst einsetzten. Auf internationaler Ebene entstanden über tausend Chile-Komitees, die sich zu einer »Europäischen Koordination für Solidarität mit Chile« zusammenschlossen. Auch aus heutiger Sicht beeindruckend war die politische Offenheit (siehe Marginalie).
Zwar existierte noch das uneingeschränkte Recht auf Asyl im Grundgesetz. Dennoch war es auch damals schwer, verfolgten Chilen*innen die Aufnahme in der BRD zu ermöglichen. Staatssekretär Karl Moersch von der SPD-/FDP-Regierung erklärte 1973 in aller Offenheit: »Es geht darum, dass wir keine Berufsrevolutionäre aufnehmen wollen«. Als sich die Bundesregierung auf politischen Druck hin zur Aufnahme von 100 Personen bereit erklären musste, wurde das Asylverfahren sogar nach Chile selbst verlegt, wo eine Kommission aus Beamten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Bundesanstalt für Arbeit Menschen, die aufgenommen werden sollten, überprüfte. Im Dezember 1973 trafen die ersten Exilchilen*innen in Frankfurt am Main ein.
Wichtiger wurde die Rettung von Geflüchteten mittels Touristenvisum oder Studienplatz. Hier waren die Solidaritätskomitees, in denen die VVN-BdA eine zentrale Rolle spielte, mit Amnesty International, Kirchen, Unterstützern aus Parteien, Gewerkschaften und Universitäten unverzichtbar. Man besorgte Stipendien und Arbeitsstellen, Notunterkünfte in Kirchengemeinden, Sach- und Geldspenden, da diese Geflüchteten keinen Anspruch auf staatliche Leistungen hatten. Zudem entwickelte man mit öffentlichen Kampagnen Druck auf die Regierung. So wurde erreicht, dass bis 1979 etwa 2.700 Exilierte aus Chile in die BRD kommen konnten. Verbunden mit dieser praktischen Arbeit waren Demos zur Erinnerung an den Putsch und zahllose Konzerte mit chilenischen Musikgruppen, die seit September 1973 bis zum Ende des Pinochet-Regimes mehrere 100.000 Menschen für die antifaschistische Solidarität mobilisierten.Hoffnung in Unidad Popular
Auch in der DDR gab es eine breite gesellschaftliche Chile-Solidarität, getragen von staatlichen Einrichtungen und der Volkssolidarität. Die DDR setzte große Hoffnungen in den Sieg der Unidad Popular und war bereit, diese Entwicklung zu unterstützen. So lagen am Tag des Pinochet-Putschs gerade drei DDR-Schiffe in chilenischen Häfen mit Lebensmittelhilfen und Medizin, bezahlt aus Spenden in Höhe von 32 Millionen DDR-Mark. Als Reaktion auf den Putsch beschloss das Politbüro der SED die Gründung eines Solidaritätszentrums und die Aufnahme von etwa 5.000 chilenischen Emigranten. Viele von ihnen studierten in der DDR, darunter die spätere chilenische Präsidentin Michelle Bachelet. Emigrantengruppen eröffneten in Berlin Auslandsbüros, zum Beispiel Chile Antifascista. Seit Herbst 1973 organisierte die DDR eine Solikampagne für den inhaftierten KP-Generalsekretär Luis Corvalán, der tatsächlich im Dezember 1976 freigelassen wurde. Diese Chile-Solidarität war nicht nur staatlich organisiert. Es gab kaum eine offizielle Veranstaltung ohne chilenische Emigranten. Schulen, Genossenschaften, selbst Kasernen erhielten die Namen von Salvador Allende, Pablo Neruda oder Victor Jara. Die Chile-Solidarität war im gesellschaftlichen Alltag präsent, kein »verordneter Antifaschismus«.