Mit großer Offenheit
14. September 2023
Stand stets mit Rat und Tat zur Seite: Marianne Wilke ist tot
Die Zeitzeugenberichte von Verfolgten und WiderstandskämpferInnen waren und sind von unschätzbarem Wert für nachfolgende Generationen. Im Nachkriegsdeutschland wurden »Lehren aus der Vergangenheit … ganz bewusst nicht gezogen«. »Das dürfen wir nicht zulassen«, sagte Fritz Bringmann, ehemaliger Landesgeschäftsführer der VVN-BdA in Schleswig-Holstein. So war Marianne Wilke bis zu ihrem Lebensende mit unermüdlichem Engagement als Zeitzeugin tätig. Sie stellte sich jeder Frage und sei sie auch noch so persönlich, beantwortete sie verständnisvoll und mit großer Offenheit.
Herabsetzung und Ausgrenzung
Marianne Wilke, geborene Lehmann, wurde 1929 in Hamburg geboren. Bereits kurz vor Schulbeginn erfuhr sie Herabsetzung und Ausgrenzung. Sie war mit dem Bruder auf die Straße zum Spielen gegangen, als ein Nachbarsjunge auf sie zukam und sagte: »Meine Mutter sagt, ihr seid Juden«. Marianne konnte nichts mit dem Begriff »Jude« anfangen. Die Familie begann sich zu fragen, ob es noch schlimmer werden könne und ob sie aus Deutschland auswandern müssten. Durch die heimlich belauschten Gespräche der Erwachsenen erfuhr Marianne, dass ihr Vater »jüdisch« war und sie und ihr Bruder »Halbjuden«, wie es diffamierend im NS-Sprachgebrauch hieß. Sie gewann den Eindruck, dass mit ihrer Familie »irgendetwas merkwürdig« war. Nie hat sie vergessen, wie eine Mutter ihren Kindern vom Balkon aus zurief: »Aber nicht mit den Lehmanns-Kindern spielen«.
Sie war dabei, als von der Gestapo Druck auf ihre Mutter ausgeübt wurde, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, was diese aber nicht tat. Sie erlebte mit, wie ihre Großeltern zwangsweise ihre Wohnung verlassen und in ein kleines Zimmer ziehen mussten. 1941 wurden ihnen sowie einem Onkel und seiner Frau Deportationsbefehle zugestellt. Nie wieder erhielt sie ein Lebenszeichen von ihnen, und erst nach dem Krieg erfuhr sie durch Recherchen von deren Ermordung. Marianne Wilke überlebte mit ihren Eltern und ihrem Bruder die Nazizeit.
Nach der durch den Naziterror geprägten Zeit, schloss sich Marianne Wilke einer Jugendgruppe der Guttempler an. »Ich wollte in den Wäldern laufen, ich wollte mit der Jugendgruppe auf Fahrt gehen. Das war für mich das wahre Leben«. Dies konnte sie nun mit Gleichgesinnten erleben. Sie besuchte das Fröbelseminar und machte 1951 ihren Abschluss, um als Erzieherin zu arbeiten. Zur gleichen Zeit, als noch Trümmer auf den Straßen lagen, musste Marianne erleben, dass sich wieder Nazis formierten, die sich zu Opfern stilisierten. Den erwarteten Neuanfang gab es nicht. Marianne gehörte mit zu den Jugendlichen, die 1951 Helgoland besetzten, um die Freigabe der Insel vom britischen Militär zu erreichen. Im selben Jahr wurde sie Mitglied der KPD, später der DKP. Aufgrund ihrer kommunistischen Weltanschauung verlor sie ihren Arbeitsplatz im Kindergarten und machte eine weitere Ausbildung, die zur Altenpflegerin. 1952 heiratete sie Günter Wilke und hatte drei Söhne mit ihm. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie Gründungsmitglied der Wedeler Gruppe »Kampf dem Atomtod«. Mit Beginn der Ostermärsche nahm sie regelmäßig an Friedensdemos teil und organisierte Gedenkveranstaltungen zu Hiroshima mit.
Die Bedeutung der Solidarität
Marianne Wilke betonte immer wieder, wie wichtig die Zeichen und Gesten der Solidarität für sie und ihre Familie in der Nazizeit gewesen sind. Still abgelegte kleine Lebensmittelgeschenke, vorbeigebrachte Bücher … ließen sie spüren, dass es Menschen gab, die »uns nicht verachteten, mit uns fühlten und das Unrecht sahen, was uns geschah«. »Ich muss immer daran denken, dass Flüchtlinge, die noch nicht eingebürgert sind, und Sinti und Roma, die heute mancherorts noch immer als Zigeuner beschimpft werden, unsere Solidarität brauchen. Es ist genauso wichtig wie damals, und ich weiß, wie uns das geholfen hat.« – Marianne Wilke setzte sich so zum Beispiel für die Anerkennung der Sinti und Roma als Minderheit in Schleswig-Holstein ein und erhielt für diesen Einsatz den »Meilenstein«, eine Auszeichnung des Verbandes Deutscher Sinti und Roma e. V. – Landesverband Schleswig-Holstein, die sie mit großem Stolz erfüllte. Neben dem »Meilenstein« erhielt Marianne Wilke 2015 für ihre Tätigkeit als Zeitzeugin das Bundesverdienstkreuz.
1970 wurde sie Mitglied der VVN, später VVN-BdA, und begann als Zeitzeugin jungen Menschen von der Zeit des Naziterrors zu berichten. In Zeitzeugengesprächen wurde ihr oft die Frage gestellt, was man gegen Nazis und die AfD tun könne. Hierauf antwortete sie mit einem Verweis auf das Grundgesetz, in diesem wurde »die praktische Lehre aus der Nazizeit gezogen« und benannte Artikel 1 »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Marianne betonte hierbei, dass dort nicht stände »Die Würde des deutschen Menschen, (sondern) die Würde des Menschen, aller Menschen«. Ferner betonte sie die Notwendigkeit von Solidarität und einer friedlichen Lösung von Konflikten. Dies seien Mittel gegen die Naziideologie von der Ungleichheit des Menschen.