Solidarisches Miteinander

5. November 2023

Vom Jugendprojekt zu demokratischer Teilhabe: Treibhaus Döbeln

antifa: Döbeln ist eine Kreisstadt in Mittelsachsen. Ihr betreibt seit 2001 in der Bahnhofstraße das Treibhaus. Was sind eure Schwerpunkte?

Stephan Conrad: Wir haben uns 1997 als Initiative gegen die rechte Jugendkultur in unserer Stadt organisiert. Daraus ist das Treibhaus als Begegnungszentrum hervorgegangen. Erst als Jugendclub im Erdgeschoss, als Schutzraum für nichtrechte Jugendliche, Punks, Skater, Graffiti-Sprayer, Goths usw. Später haben wir das Haus – ein altes Hotel – erworben, und nun nutzen wir die oberen Etagen auch. Wir bieten mittlerweile für alle Generationen Kulturveranstaltungen, Werkstätten, Beratungen, internationalen Austausch, politische und historische Bildung. Dabei setzen wir vor allem auf Partizipation – es gibt kein Projekt, das nur auf den Veranstaltungskonsum abzielt, alle Projekte verstehen sich als Mitmachangebote. Ein Großteil der Aktivitäten wird von Ehrenamtlichen initiiert und getragen. Die Hauptamtlichen sorgen für die Kontinuität, Verwaltung und Finanzierung. Bedarfe werden an uns herangetragen. So sind auch die Projekte außerhalb des Hauses entstanden. Eine Skatehalle, Bildungsfahrten, Stadtrundgänge und viele Veranstaltungen in anderen Räumen. Unser Schwerpunkt ist ganz banal, Vorurteile abzubauen und Räume des unkommerziellen und solidarischen Miteinanders zu etablieren. Wir glauben, dass das der Schlüssel zu einer weniger gewaltvollen Realität ist. Durch Begegnung, Bildung und die Sicherstellung eines Schutzraums, in dem Diskriminierung keinen Platz hat.

Manchmal machen wir das konfrontativ, aber meist durch ganz klassische Freizeitangebote wie Kreativwerkstatt, Ausstellungen, Konzerte, Lesungen und Sport. Dann die Unterstützungsarbeit für die in der Gesellschaft marginalisierten Gruppen: ganz vorne natürlich geflüchtete Menschen, die hier in der Stadt untergebracht sind. Als drittes Standbein würde ich die Beschäftigung mit der Region nennen: Geschichts-AG, Dokumentation rechter Vorfälle und politische Betätigung mit klarer antifaschistischer Haltung. Da wir hier gute soziale und kulturelle Arbeit machen – nicht nur für die Jugend –, haben wir auch eine große Basis und können Druck erzeugen, der nicht so einfach wegzuwischen ist. Als Höcke hier in die Stadt kam, war klar, dass alle dagegen auf die Straße gehen. So eine Stimmung schaffst du nicht von jetzt auf gleich.

Stephan Conrad (38) erlebte die »Baseballschlägerjahre« in Döbeln und war und ist an verschiedenen Projekten im Haus ehrenamtlich beteiligt. Er ist hauptamtlicher Sozialarbeiter im Treibhaus, arbeitet im Projekt der historisch-politischen Bildung und sitzt für die SPD im Stadrat Döbeln. Treibhaus Döblen, Bahnhofstr. 56, 04720 Döbeln (Sachsen)
Infos: treibhaus-doebeln.de

Stephan Conrad (38) erlebte die »Baseballschlägerjahre« in Döbeln und war und ist an verschiedenen Projekten im Haus ehrenamtlich beteiligt. Er ist hauptamtlicher Sozialarbeiter im Treibhaus, arbeitet im Projekt der historisch-politischen Bildung und sitzt für die SPD im Stadrat Döbeln. Treibhaus Döblen, Bahnhofstr. 56, 04720 Döbeln (Sachsen) Infos: treibhaus-doebeln.de

antifa: Eure Geschichts-AG untersucht die Spuren der NS-Zeit in der Region. Die Erkenntnisse werden auf www.doebeln-im-ns.de dokumentiert. Mit eurer Forschung zur Psychiatrie Hochweitzschen habt ihr Pionierarbeit geleistet.

S. C.: Das war, ehrlich gesagt, Zufall. Eine Patientin im heutigen Fachkrankenhaus Bethanien ist an uns herangetreten und hat den Kontakt zum ärztlichen Direktor vermittelt. Der war im Archiv auf Patiententakten aus der Zeit 1933–1945 gestoßen und suchte Hilfe bei der Auswertung. Die Forschungsfrage war, ob und inwieweit die Klinik an Zwangssterilisationen und der sogenannten dezentralen »Euthanasie« beteiligt war. Da haben wir uns zusammen mit ihm rangemacht und rund 4.200 Patienten in einer Datenbank erfasst. Damit haben wir uns dann auf die Suche nach den Schicksalen dieser Menschen unter anderem im Staatsarchiv in Dresden und Leipzig begeben. Wer war noch in anderen Zwangsanstalten, wer wurde während der sogenannten Aktion T4 ermordet, wo sind die Ärzte geblieben und all das, was sich dann auftut. Die Rolle solcher kleinen Psychiatrien im Rahmen der »Aktion T4« ist ja kaum erforscht. Das war schon ein sehr großes Projekt und hat jetzt bis zur Veröffentlichung des Buchs drei Jahre gedauert. Die AG Geschichte hat ansonsten Stadtrundgänge und Workshops zur Regionalgeschichte konzipiert und gehört in fast allen Schulen zum jährlichen Pflichtprogramm.

antifa: Das Treibhaus gibt es seit 25 Jahren. Wie hält sich so was?

S. C.: Wir sind die ganze Zeit in Bewegung. Stehenzubleiben bei der Jugend(sub-)kultur Ende der 90er Jahre wäre fatal gewesen. Immer wieder neue Konzepte zu entwickeln, um Menschen zu begeistern, um auf die sich verändernde Situation im Landkreis und in der Stadt zu reagieren, ist das Wichtigste. Das eigentliche Kapital sind aber diejenigen, die was für sich und andere aufbauen, ihren Alltag gemeinsam gestalten und was in der Region verändern wollen. So haben wir ja auch angefangen. Mit wenigen Leuten und bis zur Selbstaufgabe. Ab einem bestimmten Punkt sind wir aus der permanenten Konfrontation und spontanen Aktion in die Breite und Kontinuität gegangen, und das hat geholfen, um uns weniger angreifbar zu machen. Ja, die AfD und weitere rechte Akteure sind hier in der Region stark. Das Netzwerk dagegen, das wir mitgestalten, ist ein Bollwerk, kann aber auch nicht gesellschaftliche Trends bestimmen. Sich ausschließlich auf die Förderungen des Landes zu verlassen, wäre keine gute Idee. Wir können etwas ruhiger schlafen, seitdem wir das Haus gekauft haben, und setzen auf eine Mischfinanzierung aus staatlichen Mitteln der Jugend-, Kultur- und Integrationsförderung und gleichzeitig Eigenmitteln von unseren Mitgliedern, eigenen Einnahmen und projektbezogenen Spenden.

»Der Mensch als Ballast«. Broschüre zur Heil- und Pflegeanstalt Hochweitzschen in der NS-Zeit (shop.treibhaus-doebeln.de/produkt/broschuere-der-mensch-als-ballast)

Das Interview führte Nils Becker.