Geteiltes Erinnern
2. März 2024
Das Projekt zur Ausstellung »Cultures of Remembrance«. Ein Gespräch
antifa: In eurer Ausstellung geht ihr unterschiedlichen Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus nach. Ihr arbeitet mit Partnern in der Ukraine, Russland, Belarus, Griechenland und Georgien zusammen. Wie kam es dazu?
Educat: Wir machen seit Jahren Gedenkwanderungen im Elbsandsteingebirge, um über den Aufstieg des NS, den Alltag damals, aber auch die Formen der Erinnerung daran, aufzuklären. Wir denken, dass Wanderungen ein didaktisch sehr hilfreiches Mittel sind, um die Kontexte erfahrbar zu machen. Dabei sind uns immer wieder lokal spezifische Geschichtsdeutungen untergekommen, die viele Fragen aufwerfen: Was wird von wem gedacht, wie ändern sich diese Muster, und wer ist dafür verantwortlich.
Vor vier Jahren sind wir dann mit unseren Projektpartner*innen zusammengekommen, um die Frage zu diskutieren, wie Staaten versuchen Geschichte für aktuelle Politik zu instrumentalisieren. Daraus ist dann eine längerfristige Vernetzung entstanden. Dabei haben wir festgestellt, dass es in den exsozialistischen Staaten eine große Dynamik der Uminterpretation der Geschichte des NS gibt. Bücher werden umgeschrieben, Denkmäler verändert, und wir erleben eine regelrechte Geschichtspropaganda die für Nationalismus und künftige Kriege in Anschlag gebracht wird. Dagegen stehen die nicht staatlichen Gedenkkulturen, die angebliche Nebenschauplätze aufzeigen (zum Beispiel Queeres Leben im NS), die über Generationen hinweg getragenen Überlieferungen in den Familien, die kleinen Archive in den Dörfern und die vielen, aber weniger werdenden Zeitzeug*innen. Diese wollen wir stärken. Projektpartner sind Political Critique (Zeitung aus der Ukraine), die Gruppen »Solidarity with Migrants« und Prosfigyka (Athen), die Menschenrechtsorganisation Human Constanta (Belarus), das Bildungskollektiv Trava (Russland) und die Tbilisi School for Social Research (Georgien). Uns alle eint gerade nicht ein gemeinsames Geschichtsbild. Vielmehr geht es bei diesem transnationalen Erinnern um vom Staat unabhängige Bildungsarbeit für alle Altersgruppen, um Brücken zwischen Gedenkkulturen zu schlagen, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen. Denn um das Denken von heute zu analysieren, brauchen wir beispielsweise Kenntnis über die Traumata (gerade die familiären) von gestern. Um sich in Zeiten größter Verwerfungen wieder näher zu kommen, wie aktuell die Bevölkerungen der Ukraine und Russlands, braucht es nicht gemeinsam geteilte Geschichtsauffassungen, sondern ein Verständnis davon, warum, wie, wo, in welchem Kontext gedacht und gehandelt wird. Dafür braucht es eine gewisse Offenheit, die Bilder der anderen in die eigenen Narrative miteinzubauen und das eigene zu hinterfragen. Mit so einer Dialogbasis sind Kompromisse, Zusammenleben und Aussöhnung möglich.
antifa: Wie wird das in der Ausstellung repräsentiert?
Educat: Es sind ganz unterschiedliche Darstellungsformen gewählt worden, um die Ausstellung einerseits für verschiedene Altersgruppen interessant zu machen, aber auch die Zugänglichkeit für möglichst viele zu gewährleisten. Die Fragen rund um Zugänglichkeit sind, glaube ich, generell zentral, wenn es um die Auseinandersetzung mit verschiedenen Geschichtsnarrativen geht: Wie zugänglich sind Geschichtsdiskurse generell, wie viel Vorwissen wird erwartet, wie barrierearm ist die Gestaltung, wie viel Zeit wird den Besuchenden gelassen und so weiter. Wir haben Podcasts zum Reinhören, Kartenspiele, Filme, interaktive Methoden, Comics, Pinwände, um aus den verschiedenen Regionen möglichst viele Perspektiven erfahrbar zu machen.
antifa: Was ist aus der gemeinsamen Arbeit außerdem entstanden?
Educat: Genau genommen ein Solidarnetzwerk, das während des Kriegs Menschen aus der Ukraine und Russland, die auch sehr unterschiedliche Meinungen hatten, zusammengebracht hat. Es sind ja ständig neue Grausamkeiten während der Projektarbeit passiert. Neue Betroffenheiten sind entstanden. Zusammen haben wir Werkzeuge, mit denen Bildungsarbeit und Dialog dennoch möglich sind, entwickelt. Daraus ist auch ein Handbuch entstanden. Wir waren in vielen Onlinekonferenzen, sind aber auch viel gereist, haben Workshops organisiert und Berichte veröffentlicht. Nebeneffekt: Unter dem Dach deutscher Kultur und Bildung konnten wir den Partner*innen, die schnell ihre Länder verlassen mussten, mit Visa aushelfen.
Die Ausstellung und das Begleitprogramm wollen wir touren lassen. Schön wäre es, sie an Orten zu zeigen, wo es geschichtspolitisch eher eindimensional zugeht, damit wir das aufbrechen können. Am besten eignen sich Regionen, wo es lokales Gedenken gibt, das wir untersuchen können, und wo es einen gewissen Resonanzraum gibt. Also Menschen, die sich diese Frage nach den Grundlagen des Erinnerns stellen, die Lust haben, sich kritisch damit auseinanderzusetzen und wo solche Gedenkbegegnungen möglich sind.
Educat ist ein Bildungskollektiv aus Berlin und Dresden, bestehend aus sechs Mitarbeitenden. An vier Bildungsschwerpunkten arbeiten sie hauptsächlich: Feminismus, Selbstorganisierung, Gedenkarbeit und -Accessebility [zu deutsch: Zugänglichkeit]. Angewandt werden Bildungskonzepte, die auf Gruppenarbeit beruhen und den Austausch fördern. Finanziert wird die Arbeit vor allem über Fördermitgliedschaften und bezahlte Workshops. Infos: educat-kollektiv.org
Das Gespräch führte Nils Becker