Ihr lebt weiter
27. April 2024
Zwei Erzählungen von Betroffenen des rechten Terroranschlags in Hanau
»Passt auf euch auf, gebt auf euch acht, es wird mit Hanau nicht enden!« Çetin Gültekin, 2020, Hanau
Als Said Etris Hashemi und auch Çetin Gültekin ihre Bücher zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorstellten, wusste ich sofort, dass ich sie lesen würde. Es handelt sich um persönliche Erzählungen von Betroffenen rechten Terrors, aus einem Ort ganz in der Nähe von Frankfurt am Main, meiner Heimatstadt. Beide Autoren habe ich persönlich kennengelernt und ihren Reden mehr als einmal zugehört. Der 19. Februar 2020 in Hanau, um den es in beiden Büchern geht, hat auch für meine Freunde, Familie und viele politische Wegbegleiter eine tief einschneidende Bedeutung, jedoch für jeden auf seine Weise. Denn Hanau hat durch die Fragen und Anklagen der Betroffenen und Überlebenden sowie der Hinterbliebenen eine erneute Debatte über den Polizeiapparat, Diskriminierungen und den rechten Terror in der BRD ausgelöst. Das macht die Bücher für Nichtbetroffene zugänglich und bietet einen neuen und sehr persönlichen Einblick in jenen 19. Februar.
Das Buch von Said Etris Hashemi beginnt mit dem hessischen Untersuchungsausschuss zum 19. Februar und wie dieser wahrgenommen wurde, mit all der Bürokratie und der Kraft, die es gekostet hat, ihn durchzustehen. Es zeigt, dass alle Erkenntnisse im Untersuchungsausschuss von den Hinterbliebenen eingebracht wurden und dass Politik und Polizei sich weiterhin als unschuldig darstellen. Eine politische Aufklärung ist ebenfalls nicht erfolgt. Said ist ein Überlebender von Hanau und Sohn afghanischer Geflüchteter. Er überlebte den Anschlag mit mehreren Schusswunden. Er beschreibt seine Kindheit in Afghanistan und in Hanau sowie den Prozess des Erwachsenwerdens. Dabei thematisiert er alltägliche Diskriminierungen und den Zusammenhalt im Block in Hanau.
Der Tag, an dem Said sterben sollte, hat sein Leben sowie das Leben der anderen Opfer von einer Sekunde zur anderen in einen tiefen Abgrund gerissen. Bis heute bleibt er im kollektiven Gedächtnis der Stadt und aller Betroffenen. Ihren Schmerz kann niemand nachfühlen, der ihn nicht selbst erlebt hat. Der Autor beschreibt in seinem Buch, wie er diesen Tag erlebt und überlebt hat, mit all seinem seelischen und körperlichen Schmerz, dem Verlust des Bruders, den er beim Sterben beobachten musste, sowie der Hilflosigkeit seiner Familie und Freunde. Er schildert auch, wie die Polizei nach dem Anschlag die Handys aller, auch der Toten, einsammelte, mit der Begründung, in alle Richtungen ermitteln zu müssen. Aber auch den Kampf zurück ins Leben beschreibt er – die Prozesse und Gespräche. Immer und immer wieder musste er die Wunden aufreißen, um über den 19. Februar zu sprechen. Fassungslosigkeit über das Rechtssystem und die bis heute bestehende Ungerechtigkeit werden deutlich.
Vieles, was im Buch über das Leben in Hanau steht, kenne ich auch aus meinem eigenen Leben. Ich weiß, wie es sich anfühlt, einen Ort zu suchen, an dem man sich zu Hause und respektiert fühlt, an dem einen keiner »komisch« anschaut oder man sprechen kann, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Einen Ort, von dem man erzählen kann, ohne den Alltagsrassismus und Demütigungen zu erwähnen, und wo man versteht, ohne große Erklärungen abgeben zu müssen. Ein Verlust der Sicherheit in der eigenen Heimatstadt. Das Buch wird lange nachhallen.
Auch in dem Buch von Çetin Gültekin und Mutlu Koçak ist der Verlust der Sicherheit in der eigenen Stadt, in dem Zuhause, das Hanau ist, das Verbindende. Beschrieben wird das Ankommen der Eltern und das Unrecht, dem sie als »Arbeitskräfte« ausgesetzt waren. Auch die Geschichte, wie seine Familie nach Hanau kam, wird erzählt. Gültekins Leben als Kleinkind in der kleinen türkischen Stadt Tahir in der Provinz Ağrı (kurdisch:Agirî), später in Hanau wird beleuchtet. Er erzählt von einem Fest, bei dem er vor 40 Neonazis floh und zwei seiner Freunde zusammengeschlagen wurden. Diese Gewalt von rechts haben einige Menschen mit Migrationsgeschichte erlebt, sei es körperlich oder verbal. Aber auch die nonverbale Gewalt hinterlässt Spuren. Angst, Unsicherheit, aber auch das Erlernen, den Kopf zu erheben, werden thematisiert.
Durch den Anschlag in Hanau kam die Angst zurück, nicht mehr sicher zu sein, nirgends! Wir erlebten mit, wie die Hinterbliebenen um die Wahrheit kämpften, um ihr Recht, zu erfahren, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Auch das beschreibt der Autor in seinem Buch, seinen Zorn und seine Trauer, seine Wut auf Behörden und Staat. Diesen Zorn teilen viele Betroffene rassistischer Gewalt. Durch die Worte in dem Buch bekommen auch Menschen ohne Rassismuserfahrung Einblick in die Gefühlswelt und die Machtlosigkeit von Betroffenen. Aber auch in deren Stärke und Kampf gegen die Ungerechtigkeit.
Damit sind beide Bücher persönliche Erinnerungen, Erfahrungen, von Trauer und dem Verlust des Lebens vor dem 19. Februar 2020 und über das Leben nach dem rechtsterroristischen Anschlag, die Said Etris Hashemi und Çetin Gültekin mit uns allen teilen. Auf einem der Plakate beim diesjährigen Erinnern in Hanau stand: »Ihr lebt weiter«. Ja, sie leben weiter, auch in den Büchern beider Brüder und Überlebender.
Çetin Gültekin stellt in seinem Buch die Frage: »Was sollten wir tun? Uns verstecken?« Seine Antwort im Buch lautet: »Das kam nicht in Frage.« Er berichtet darüber, wie die Terroranschläge von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen und der NSU auch Auswirkungen auf seine Familie hatten. Das trifft auf viele Menschen zu, die nicht ins Bild extrem rechter Terrorgruppen und Personen passen. Es waren die 1990er Jahre, die sogenannten Baseballschlägerjahre. Viele Betroffenen von rassistischer Gewalt dieser Jahre, sind, spricht man mit ihnen heute über die Zeit, bedrückt, still und traurig. Auch wenn viele noch sehr jung waren, haben sie diese Jahre häufig mehr geprägt als alles vorher.
Çetin Gültekin und Mutlu Koçak: Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland. Heyne, München 2024, 301 Seiten, 16 Euro