»Die Abschiebepraxis eskaliert«
4. Juli 2024
Zu den aktuellen Verschärfungen im Asylsystem. Ein Gespräch mit dem Anwalt Franz Spindler
antifa: Die EU hat dieses Jahr die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verabschiedet, das Recht auf Asyl wird momentan von allen Seiten angegriffen. Wie wirkt sich das auf deine Arbeit aus?
Franz Spindler: Diese konkrete massive Verschärfung schlägt sich auf unsere aktuelle Arbeit noch nicht in großem Ausmaß nieder, da die Regelungen ja noch nicht konkret umgesetzt werden. Die Geflüchteten, die bei uns an die Tür klopfen, haben den gefährlichen Weg nach Europa bereits geschafft und trotz aller Gefahren hinter sich.
Auf jeden Fall ist aber bereits jetzt eine noch restriktivere Verfahrenspraxis festzustellen. So werden immer mehr Asylverfahren vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als »O. U.« (Offensichtlich Unbegründet) abgelehnt. Das ist die schlechteste Form einer Asylablehnung und gesetzlich eigentlich nur für Ausnahmefälle vorgesehen, weil sie massive Einschränkungen im gerichtlichen Rechtsschutz beinhaltet. Das heißt, hier werden Abschiebungen sehr erleichtert.
Auch bei der Abschiebepraxis gibt es deutliche Versuche der Eskalation. So wurde Ende Juni ein Mandant von uns in Abschiebehaft genommen, der hier verheiratet ist, einer festen Arbeit nachgeht, bisher immer geduldet wurde, ganz offiziell angemeldet ist und im Kontakt mit der Ausländerbehörde stand. Die Polizei kam völlig überraschend an seinen Arbeitsplatz und hat ihn festgenommen. Das sind sicherlich Versuche der Ausländerbehörden, mit der aufgeheizten ausländerfeindlichen Stimmung im Rücken eine nochmals verschärfte Praxis zu installieren.
antifa: Sind derartige Verschärfungen neu für dich?
F. S.: Generell ist festzustellen, dass unsere Arbeit von Beginn an mit Gesetzesverschärfungen, sogar Grundgesetzänderungen konfrontiert war. Es gibt wohl keinen Rechtsbereich, der mit so vielen Gesetzesänderungen konfrontiert ist wie das Asyl- und Aufenthaltsrecht. Und jede Änderung heißt in der Regel Verschärfung. Ein Kollege formulierte es auf einem Symposium so: »Migrationsrecht ist ohne jeden emanzipatorischen Gehalt.« Das »Ausländerrecht« kommt ursprünglich aus dem Polizeirecht. Es ist unglaublich, dass die Ausländerpolizeiverordnung von 1938 noch bis 1965 in Deutschland weitergalt und das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil feststellte, diese Verordnung enthalte kein nationalsozialistisches Gedankengut. Ausländerbehörden können nur beißen, deshalb kommen sie auch mit den wenigen wirklich positiven neuen Regelungen nicht zurecht.
antifa: Die AfD hetzt gegen Geflüchtete und treibt die Bundesregierung vor sich her, die jetzt auch Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien wieder möglich machen will. Inwiefern macht sich der wachsende Zuspruch für die AfD und der allgemeine Rechtsruck in deiner Arbeit bemerkbar, zum Beispiel im Umgang mit Gerichten und Ämtern?
F. S.: Ich warte darauf, dass mir im Gerichtssaal einmal ein Richter oder eine Richterin mit offenem AfD-Sprech begegnet. Das habe ich bisher nicht erlebt, aber der verwaltungsgerichtliche Alltag in Asylverfahren reicht eigentlich schon, um einen mit der Materie nicht so befassten Zuhörer zu schockieren.
Hier spielen für mich bundeslandspezifische Unterschiede schon eine Rolle, die bayerischen Verwaltungsgerichte sind in ihrer Rechtsprechung gnadenlos, manche Anwält*innen gehen zu den Gerichtsverfahren gar nicht mehr hin. Nach Norden zu wird es teilweise etwas anders, und es gibt unter den jungen Richter*innen auch eine Generation, die sich von diesem Mainstream absetzt. Gerade in Verfahren geschlechtsspezifischer Verfolgung in Afrika habe ich jetzt mehrere Richter*innen kennengelernt, die sich außerordentlich gut und unter Hinzuziehung wissenschaftlicher Expertise über die aktuelle Lage informiert hatten und auch entgegen den üblichen Entscheidungen hier die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt haben. Wie viele AfDler*innen in den Amtsstuben der Ausländerbehörde sitzen, kannst du natürlich nicht nachweisen, das ist wie bei der Polizei, aber unsere Kommunikation ist oftmals entsprechend, das geht oft Kante auf Kante.
antifa: Durch die Gespräche mit deinen Mandant*innen bekommst du einen guten Eindruck davon, was Leute auf der Flucht erleben. Wie sieht der durchschnittliche Weg nach Deutschland aus?
F. S.: Viele unserer Mandant*innen gelangen auf dem langen Landweg über Osteuropa, Bulgarien, Kroatien, Slowenien, hierher und laufen oft Hunderte Kilometer mit Kleinkindern. Viele können sich nach der Ankunft eine lange Zeit nur eingeschränkt bewegen.
Bestürzend ist aber, dass Fluchtwege in Asylverfahren keine Rolle spielen, es geht ja primär um das Verfolgungsschicksal im Herkunftsland und der Fluchtweg stellt oftmals einen Ansatz dar, um die grauenhafte Realität einer Flucht zu manifestieren, deshalb lenken viele Richter*innen vom Thema Fluchtwege im Verfahren sehr schnell ab.
Ich insistiere jedoch oftmals darauf, dass die Betroffenen ihren Fluchtweg deutlich machen. In einem Verfahren hat der dortige Kläger aus Nigeria die zerfetzte Rettungsweste auf seinen Klägertisch gelegt und erklärt, wie er als einer der wenigen bei der Havarie seines Bootes im Mittelmeer überlebte, nachdem ihm Matrosen eines Frachtschiffes diese Rettungsweste zugeworfen hatten. Diese orange Weste hat dem Richter während des gesamten Verfahrens ins Gesicht geleuchtet und ihn sichtlich irritiert – dennoch wurde die Klage letztendlich abgewiesen.
antifa: Viele meinen, Deutschland sei für Asylsuchende aufgrund der Sozialleistungen das beliebteste Zielland. Stimmt das?
F. S.: Dass Deutschland das beliebteste Zielland für Geflüchtete sein soll, kann ich nicht bestätigen. Diese Einschätzung resultiert auch aus der Selbstgerechtigkeit der hiesigen Behörden. Gerade bezüglich von Arbeitschancen, Alltagsorganisation und Integrationsmöglichkeiten suchen viele Betroffene inzwischen auch andere europäische Länder auf, England beispielsweise. Die behördlichen Reglementierungen in der BRD sind schon außerordentlich.
antifa: Seit 2022 halten sich viele Ressentiments gegenüber ukrainischen Geflüchteten hartnäckig, von Rechten aber auch von anderen Geflüchteten. Es heißt, sie würden das »Geld in den Rachen geschoben bekommen«, während andere benachteiligt werden. Was sagst du dazu?
F. S.: Natürlich will ich mich selbst nicht an einer weiteren Hierarchisierung zwischen den Geflüchteten und Notleidenden beteiligen. Rein faktisch und objektiv wurde den ukrainischen Geflüchteten sowohl praktisch als auch emotional jedoch viel mehr Verständnis und Unterstützung vermittelt als anderen Geflüchteten. Ihre Not scheint nachvollziehbarer und unterstützenswerter als beispielsweise die eines geflüchteten Kurden mit Verständnis für die PKK, da spielen ideologische Gründe eine Rolle. Viele denken, die Ukraine kämpfe stellvertretend »unseren Krieg«, und dies ist institutionell auch so verankert. Es ist jedoch erstaunlich, dass diese Unterstützung nach einigen Monaten auch wieder wegbrach. Teilweise hatten bisher im Flüchtlingsrecht völlig untätige Personen großherzig ihre Wohnungen angeboten – als sie dann aber feststellten, dass die Betroffenen sich anders verhielten, als sie es sich vorgestellt hatten, zogen sie die Unterstützung wieder zurück. Dann kamen so bizarre Aussagen wie: »Können sie die nicht wieder zurücknehmen?«
antifa: Wie haben sich deine Arbeit und deine Mandantschaft in den letzten 30 Jahren verändert?
F. S.: Eigentlich hat sich unsere Arbeit in den letzten 30 Jahren kaum verändert, die Menschen flüchten vor Krieg, politischer Verfolgung und Verelendung. In Afrika erfolgte die Flucht früher vielleicht eher vor bestimmten Regierungen, zum Beispiel vor dem Diktator Mobutu in Zaire, dem heutigen Kongo. Heute handelt es sich eher um »failed states« wie Libyen, Kongo, Somalia, auch in Westafrika, in denen es keine richtigen Regierungen mehr gibt, sondern eher lokale »Warlords«. Hinsichtlich der Erfolgsaussichten unserer Verfahren kann ich auch keine evidente Veränderung weder zum Guten noch zum Schlechten feststellen. Viele diktatorische Verhältnisse werden von den Gerichten einfach ignoriert. Das war in Nigeria so, als es noch von dem General Sani Abacha quasi als Militärregime regiert wurde (1993–1998, antifa), offiziell aber eine Demokratie war. Erst als Abacha dann von einer zivilen Regierung abgelöst wurde, gestanden die Gerichte – nach Jahren – zu, dass unter ihm ein Militärregime herrschte, dennoch gab es damals so gut wie keine Anerkennungen.
antifa: Du warst schon in den sogenannten Baseballschlägerjahren – also den frühen 1990er-Jahren – Asylrechtsanwalt, als Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte an der Tagesordnung waren. Momentan steigt die Gewalt gegen Geflüchtete wieder, 2023 gab es doppelt so viele Übergriffe wie 2022. Fühlst du dich an diese Zeit erinnert? Worin unterscheidet sich die Situation heute von damals?
F. S.: In den neunziger Jahren wurde die Gewalt gegen Geflüchtete zivilgesellschaftlich irgendwann auch thematisiert, es gab Lichterketten, Mahnwachen und Schutz von Flüchtlingsunterkünften, auch wir waren politisch in diesem Bereich aktiv. Ich habe damals einige Mandant*innen vertreten, die aus Ostdeutschland – wohin sie zuvor zwangsweise verteilt worden waren – flüchteten und sich weigerten, nach Angriffen und Verletzungen von Neonazis dorthin zurückzukehren. Ein Mandant hat sich beispielsweise telefonisch gemeldet und hat erklärt: »Bei uns hat es gebrannt, ich konnte gerade noch aus dem Fenster springen, leider habe ich mir das Bein gebrochen.« Und dieser Brand war nicht die Folge eines Kurzschlusses … Irgendwann haben die Behörden auch akzeptiert und quasi anerkannt, dass eine Rückkehr in diese rassistische Bedrohungslage nicht zumutbar ist, das waren jedoch Ausnahmefälle.
Als Unterschied zu damals würde ich die institutionelle Verankerung von Rassismus und Ausländerhass durch die Wahlerfolge der AfD sehen, damals erfolgten die Angriffe direkt durch marodierende Neonazis. Ich vermag jedoch nicht zu erklären, welche Situation schlimmer ist. Mit institutionellem Rassismus sind wir seit Beginn unserer Arbeit konfrontiert.
antifa: Du begleitest viele Menschen jahre- sogar jahrzehntelang. Gibt es einen Fall, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
F. S.: Bei hunderten von Fällen kann ich spontan schwer feststellen, welches Schicksal ich am schlimmsten oder auch am berührendsten fand. Spontan fällt mir eine Asylbewerberin aus der Türkei ein, eine ehemalige Kämpferin der PKK, die für ihr Aufenthaltsrecht eine sicherheitspolitische Befragung über sich ergehen lassen musste und den Spezialisten vom LKA politisch derart in die Bredouille brachte, dass er nachher zu mir sagte: »Diese Frau hat mich beeindruckt.« Oder auch der Fall eines jungen Kurden aus der Türkei, den ich derzeit vor Gericht vertrete. Im Jahr 2000 habe ich seinen Onkel vor der 3. Kammer vertreten, im Jahr 2017 seinen anderen Onkel bei der 6., das heißt, ich kämpfe für diese Familie seit über 20 Jahren, da war ich selbst ein bisschen platt. Wir haben einen langen Atem.
antifa: Was würde deiner Meinung nach am besten gegen Vorurteile gegen und Hass auf Geflüchtete helfen?
F. S.: In einem Aufsatz habe ich mal gelesen, dass die Ablehnung des »Fremden« nach Erkenntnissen der Verhaltensforschung nicht zu den »Grundbefindlichkeiten des Menschen« gehört. »Der Fremde« werde erst durch Indoktrination zum Feind. So sehe ich es auch, die Gesellschaft und die zugrundeliegenden ökonomischen Verhältnisse sind leider manifest rassistisch und fremdenfeindlich ausgerichtet und das eskaliert gerade weiter. Es gibt viele Überlegungen, dagegen anzugehen, aber nichts scheint richtig zu greifen. Wir müssen weiter hinstehen.
Das Gespräch führte Hannah Geiger
Franz Spindler arbeitet seit mehr als 30 Jahren in einer Anwaltskanzlei in Tübingen, die unter anderem den Schwerpunkt Asyl- und Aufenthaltsrecht hat. In dieser Zeit hat er viele Menschen davor bewahrt, in ihr Herkunftsland abgeschoben zu werden, wo ihnen Verfolgung, Misshandlung oder der Tod drohen.