Nothilfe in Gaza
4. Juli 2024
Es fehlt an allem – sogar an Platz!
»Das wird unser bisher schwierigster Einsatz!« Das war uns allen bei Cadus, einer humanitären Hilfsorganisation aus Berlin, klar. Spätestens als Anfang Februar unser erstes medizinisches Team mit knapp 750 Kilogramm Material den Grenzübergang Rafah im Süden des Gazastreifens passierte.
Seither haben wir x Teams nach Gaza entsendet, die Berichte sind immer dieselben: Die Zustände sind katastrophal und kaum vergleichbar mit bisherigen Kriegsgebieten. Die Zivilbevölkerung auf kleinstem Raum eingeengt, ohne Fluchtmöglichkeit, und die Kämpfe mittendrin lassen keinen sicheren Raum in Gaza zu. Es fehlt an Treibstoff, Lebensmitteln, Trinkwasser und angemessener medizinischer und sanitärer Versorgung. Hilfslieferungen kommen kaum über die Grenze, und Teile Gazas sind für humanitäre Interventionen so gut wie nicht erreichbar.
In dieser Situation hat zu Beginn unser medizinisches Team in einem Traumastabilisierungspunkt (TSP) mit dem Palästinensischen Roten Halbmond zusammengearbeitet. Hier werden Patient*innen soweit behandelt, dass sie den Transport in ein halbwegs funktionierendes Krankenhaus überstehen. Mittlerweile unterstützen wir in zwei lokalen Notaufnahmen. Nach Explosionen dauert es meist nicht lange, bis diese von Verletzten überflutet werden, für viele kann oft nur das Nötigste getan werden. Wie viele Verwundete die Krankenhäuser gar nicht erst erreichen, bleibt unklar.
Dennoch, fast 2.250 Patient*innen konnten wir bisher behandeln: Schuss- und Schrapnellwunden, chronische Leiden, Infektionen und immer öfter Krankheiten, verursacht durch schlechte Hygiene und Unterversorgung. Darüber hinaus führen wir als einzige Organisation Patient*innentransporte aus dem umkämpften und zerstörten Norden Gazas durch. 35 Patient*innen konnten wir so mit viel Aufwand evakuieren, sie werden häufig im Ausland weiter behandelt.
Wir fordern: die sofortige Freilassung aller Geiseln, den unbedingten Schutz der Zivilbevölkerung und freien Zugang für humanitäre Hilfe in ganz Gaza!
Jonas Grünwald, Mitarbeiter bei Cadus
antifa: In Gaza gibt es zur Zeit keinen sicheren Ort, das hört und sieht man aktuell überall. Was bedeutet das für eure Arbeit vor Ort?
Lysann Kaiser: Ja, und in Anbetracht der extrem gefährlichen und komplexen Situation ist Gaza einer der unsichersten Orte. Wir sind die einzige deutsche NGO vor Ort, was sicherlich auf die extrem volatile und gefährliche Lage zurückzuführen ist. Alle NGOs werden angehalten, ihre Standorte und Movements innerhalb Gazas den IDF zu melden, um nicht in aktive Kriegshandlungen reinzugeraten. Dass das nicht immer funktioniert, haben wir im April gesehen, als mehrere Mitglieder der NGO World Central Kitchen durch israelischen Beschuss ums Leben kamen. Insgesamt sind seit Kriegsbeginn über 200 Mitarbeiter von NGOs ums Leben gekommen. Richtig vorbereiten kann man sich auf diese -Situation nicht. Außerdem müssen wir uns politisch, sowohl in Gaza als auch hier, absolut neutral verhalten, um Einreisegenehmigungen oder die Teams vor Ort nicht zu gefährden. Unsere Teams werden für ihre Einsätze in Berlin dafür gebrieft und bezüglich Sicherheitsvorkehrungen trainiert.
antifa: Wie bleibt ihr vor Ort handlungsfähig angesichts der aktuellen extremen Bedingungen und der unübersichtlichen Lage?
L. K.: Zur Zeit unterstützen wir vor Ort zwei Krankenhäuser und führen medizinische Evakuierungen von Patienten durch. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Lage zwischen unserem Gespräch am 12. Juni und der Veröffentlichung dieses Textes grundlegend verändern wird – ebenso wie die Aufgaben, die wir übernehmen. Wir versuchen in Koordination mit der WHO, uns immer an die Bedingungen vor Ort anzupassen und da zu unterstützen, wo wir am meisten gebraucht werden. Cadus arbeitet autark, aber seit Beginn der Bodenoffensive in Rafah dürfen wir kaum noch Medikamente, Bargeld, und auch Nahrungsmittel einführen. Das schränkt die Arbeit aller NGOs vor Ort massiv ein. Momentan geht es den Mitarbeiter*innen vor Ort mental gut, sie sind froh, vor Ort zu sein und helfen zu können.
antifa: Was möchtest du uns, die wir hier in Sicherheit sind, aus deiner Erfahrung mitgeben?
L. K.: Mein Eindruck ist, dass die Menschen müde sind – müde wegen der ganzen Kriege weltweit, nicht nur in der Ukraine und in Gaza. Es ist wichtig, trotzdem darüber zu reden, denn die Menschen vor Ort leiden extrem unter den Bedingungen. Die Moral in der Kriegsführung scheint sich in den letzten Jahrzehnten geändert zu haben, denn selbst Krankenhäuser und deren Mitarbeiter werden zum Ziel kriegerischer Handlungen, medizinische Hilfe wird dadurch erschwert und gefährlicher.
Lysann Kaiser ist Co-CEO von Cadus
Das Interview führte Kristin Caspary
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