»Ob dieser Inspiration«
4. Juli 2024
»Begegnungen« mit Erich Mühsam. Ein Gespräch mit Isabel Neuenfeldt
antifa: Du bist seit 20 Jahren auf literarisch-musikalischen Veranstaltungen zum Wirken von Erich Mühsam zu hören. Wie kam es dazu?
Isabel Neuenfeldt: Vielleicht beginne ich erst mal damit, wo Mühsam überhaupt keine Rolle spielte: Als junger Mensch hatte ich von Erich Mühsam gar nichts gehört. Im Deutsch- und Geschichtsunterricht hatte er in meiner Schullaufbahn keinerlei Erwähnung gefunden – dieser große Dichter, Schriftsteller und Kämpfer für die Menschlichkeit.
Anfang der 1990er, noch ganz frisch in Berlin und auf Wohnungssuche, war ich dann mal ganz unbedarft zu einer Besichtigung in die Friedrichshainer Mühsamstraße geradelt. Noch immer war »mühsam« für mich nur ein Adjektiv. An der Ecke Sorgestraße erschien mir der Kiez doch recht trostlos. Zu meiner Entschuldigung kann ich anfügen: Damals gab es noch nicht die erläuternden Schildchen unterhalb der Straßennamen an den Ecken.
Im Juli 2004 wurde ich dann von einem Kollegen gebeten, anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum 70. Todestag Mühsams ein paar Gedichte von ihm zu vertonen. Meine erste »Begegnung« mit Erich Mühsam fand also erst zehn Jahre nach meinem Besuch der Mühsamstraße in Vorbereitung auf diese Veranstaltung statt. Ich hatte bis dahin noch nie ein Gedicht vertont, aber ich war erfreut ob dieser Inspiration und dieses Vertrauens. Und ich war neugierig. Die Veranstaltung fand in Oranienburg statt, an dem Ort, wo Erich Mühsam 1934 in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli in einem der ersten Konzentrationslager ermordet worden ist. Dort steht heute ein Supermarkt, eine Gedenktafel erinnert an die Vergangenheit.
antifa: Wie verlief dann deine erste »Begegnung« mit Erich Mühsam?
I. N.: Ein kleines gelbes Reclam-Büchlein mit dem Titel »Trotz allem Mensch sein – Gedichte und Aufsätze« war meine Brücke zu ihm. Neugierig, was passieren würde, neugierig, ob er mir etwas zu sagen hätte, neugierig, ob aus dieser Kontaktaufnahme also Lieder entspringen könnten, schlug ich es auf … Vom ersten Moment an war es für mich eine Begegnung, aus der schnell eine Art Zusammenarbeit entstand – so zumindest hat es sich für mich angefühlt.
antifa: Welche Gedichte Mühsams sind dir noch besonders in Erinnerung?
I. N.: Da ich seine Gedichte immer wieder singe, kann ich hier nicht von »noch in Erinnerung« sprechen. Präsent sind sie alle, und immer wieder entdecke ich neue, die ich dann singe. Das erste Gedicht, mit dem er mich »hatte«, falls du das meinst, war »Meine Seele ist so fremd«. Sehr stark sind »Der Mahner« und das bekannte »Der Gefangene«, beide gehen mir jedes Mal durch Mark und Bein. Bei dem »Lumpenlied« gefällt mir besonders, was in der Zusammenarbeit entstanden ist.
Seine Texte trafen und treffen mich mitten ins Herz. Und die Melodien wachsen für mich direkt aus den Worten heraus, sobald ich die Gedichte laut zu lesen beginne. Mühsams Sprache ist sehr emotional und hat eine ungeheure Kraft – und seine Gedanken berühren mich im Innersten. Jedes Mal. Es ist mir ein großes Anliegen, sie hörbar zu machen.
antifa: Was ist in Oranienburg dieses Jahr angesichts des 90. Todestages von Erich Mühsam geplant?
I. N.: Noch bis zum 27. Juli gibt es in Oranienburg eine Fülle von Veranstaltungen Erich Mühsam zu Ehren und zum Gedenken. Eine Übersicht ist unter -oranienburg.de und muehsam-in-oranienburg.info zu finden. Diese Veranstaltungen an verschiedenen Orten gehen von einer großen Ausstellung über eine Fachtagung mit Vorträgen zu Mühsams diversen Themen, eine Demonstration mit Kundgebung bis hin zu Lesungen, Diskussionsrunden und Konzerten. Auch in Berlin gibt es einige Veranstaltungen zu entdecken.
Isabel Neuenfeldt ist Schauspielerin, Sängerin und Akkordeonistin. In ihrer Arbeit sind ihre Sprache, Stimme und Musik ihre Werkzeuge – und immer geht es ihr um die Begegnung mit den Menschen: den lebendigen im Publikum und auch den toten, derer gedacht wird. Infos: isaneu.de
Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages von Erich Mühsams Ermordnung in Berlin/Brandenburg:
- Sa., 6.7.: 15 Uhr, Gedenkdemo ab Bahnhof Oranienburg; 16 Uhr, Musik/Theater/Redebeiträge am Gedenkort KZ Oranienburg, Berliner Straße; 20 Uhr, Konzert »Sich fügen heißt lügen« im Oranienwerk/Kultursaal, Kremmener Straße 43, Oranienburg
- So., 7.7.: 15 Uhr, »Mühsams angenehme und unangenehme Bekanntschaften«, Rundgang mit Musik, Hufeinsensiedlung, Berlin-Neukölln, hufeiserngegenrechts.de
- Mo., 8.7.: 19 Uhr, »Sich fügen heißt lügen«, literarisch-musikalischer Abend, Haus des Humanismus, Potsdamer Straße 157, Berlin
- Mi., 10.7.: ca. 14–19 Uhr, literarisch-musikalisches Picknick an Erich und Zenzel Mühsams Grab, Waldfriedhof Dahlem, Hüttenweg 47, Berlin. Bitte Teller, Glas und was fürs Picknick mitbringen, gern auch Wort- oder Musikbeiträge!
Das Gespräch führte Andreas Siegmund-Schultze