Lagebild Deutschland
8. September 2024
Das Jahr 2023 im Spiegel politischer Studien
Der politische Rechtsruck in der Bundesrepublik hat zu einem Anwachsen von Abwertung, Diskriminierung und Gewalt gegenüber Menschen geführt, die von Rechten (und nicht nur ihnen) als »fremd, gefährlich oder minderwertig« stigmatisiert werden. Wer mit offenen Augen durch den Alltag geht, kann das aus eigenem Erleben bestätigen. Doch lassen sich solche Erfahrungen verallgemeinern? Wo fängt gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit an, und wie wird sie erfasst? Im Mai sind drei Studien über antimuslimische Diskriminierung, antisemitische Allianzen und rechte Gewalt im Jahr 2023 erschienen, die Entwicklungen in diesem Bereich dokumentieren.
Die für mich eindrücklichste Studie behandelt den anhaltend größten Bereich rassistischer Diskriminierungen in der Bundesrepublik, den antimuslimischen Rassismus. Die Studie wurde von CLAIM, einer Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit, erstellt, in der sich aktuell 52 muslimische und nichtmuslimische Organisationen gegen Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus engagieren. Die Studie basiert auf Community-basiertem Monitoring, dafür wurden in den letzten Jahren einheitliche Standards entwickelt. Es lohnt sich, nicht nur die Kurzfassung der Studie, sondern den gesamten, 118 Seiten langen Text zu lesen, weil er nicht bei der Analyse von Fallzahlen und Erscheinungsformen antimuslimischen Rassismus stehen bleibt, sondern sie im gesellschaftlichen Kontext betrachtet und Handlungsempfehlungen für staatliche sowie gesellschaftliche Institutionen ableitet.
Der grundlegende Befund der Studie lautet: »Im Jahr 2023 wurden im Rahmen des Monitorings 1.926 antimuslimische Vorfälle aus dem Offlinebereich dokumentiert. Im Vergleich zum Vorjahresniveau (2022: 898 erfasste Fälle) ist damit ein Anstieg von 114 Prozent in der Dokumentation antimuslimischer Vorfälle zu verzeichnen. (…) Diese Handlungen passieren nicht isoliert, sondern sind in einem gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet. Das Ringen um die Anerkennung von antimuslimischem Rassismus, das Klima gesellschaftlicher Debatten sowie der fehlende staatliche Schutz von Betroffenen sind Rahmenbedingungen für Rassismus.«
Einen anderen Ansatz wählt die Amadeu-Antonio-Stiftung für ihre Studie »Lagebild #13: Antisemitische Allianzen seit dem 7. Oktober«, in der sie die Auswirkungen des Konflikts zwischen Israel und der Hamas auf das jüdische Leben in Deutschland thematisiert und dazu fünf Kernbeobachtungen formuliert:
1. Für Jüdinnen*Juden ist die Lage seit dem 7. Oktober katastrophal, auch in der Diaspora. Die sicheren Räume werden weniger und die Bedrohungslage ist dramatisch. israelbezogener Antisemitismus greift um sich, getragen von einer Allianz aus Islamismus und Antiimperialismus.
2. Die antiimperialistische Linke erneuert im Kampf gegen den Staat Israel ihre altbewährte Allianz mit Islamist*innen.
3. Rechtsextreme instrumentalisieren den Kampf gegen Antisemitismus und Israelhass, um ihren Rassismus offen überall platzieren zu können.
4. Israelhass wirkt identitätsstiftend.
5. Soziale Medien spielen in der Allianzbildung eine entscheidende Rolle.
Den von der Amadeu-Antonio-Stiftung bezogenen Standpunkt zu israelbezogenem Antisemitismus empfinde ich angesichts der komplizierten Auseinandersetzungen nach dem 7. Oktober als nicht differenziert genug. Doch der Tatsache, dass Israelhass und Antisemitismus bei uns in einigen Milieus tief verankert sind, muss man sich stellen. Sehr erhellend fand ich dazu die in der Studie enthaltenen Interviews mit dem Pädagogen Burak Yılmaz aus Duisburg und der Integrationsbeauftragten Güner Balcı aus Berlin-Neukölln. Aus ihrer Sicht werden die komplexen Mechanismen von erlebter Ausgrenzung einerseits und identitätsstiftender Feindschaft andererseits viel klarer. Um diese Mechanismen aufzubrechen, braucht es keine Schuldzuweisungen, sondern gesamtgesellschaftliche Veränderungen.
Die dritte Studie untersucht den Anstieg rechter Gewalttaten im vergangenen Jahr. Erstellt wurde sie vom Verband der Beratungsstellen gegen rechte Gewalt (VBRG), in dem Beratungsstellen aus elf Bundesländern mitarbeiten. Ihre Bilanz für 2023 ist alarmierend. In den erfassten Bundesländern wurden insgesamt 2.589 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe mit 3.384 direkt davon Betroffenen registriert. Körperverletzungsdelikte überwiegen und machen mehr als die Hälfte der registrierten Angriffe aus. Ihre Zahl ist um 12,43 Prozent im Vergleich zu 2022 gestiegen. Rassismus bleibt – wie in den Vorjahren – das häufigste Tatmotiv. Doch der Kreis von Opfern rechter Gewalt ist größer. Im Prinzip kann jeder und jede, die nicht in das Weltbild der Täter passt, zum Opfer werden: Journalist*innen und queere Menschen, Politiker*innen, Aktivist*innen und Wohnungslose, auch Polizeiangehörige wurden mehrfach Opfer von Angriffen sogenannter Reichsbürger.
Die Studien dokumentieren Entwicklungen, die sich bereits seit Jahren abzeichnen. Die Dringlichkeit, sie zu bekämpfen, wächst.
Die Studien im Netz:
– kurzelinks.de/studie-antimuslim
– kurzlinks.de/studie-antisemitis
– kurzlinks.de/studie-vbrg
– kurzlinks.de/studie-antiziganis
Drei erfasste Vorfälle täglich
1.233 Vorfälle und Straftaten gegen Sinti und Roma hat die Antiziganismusmeldestelle MIA 2023 registriert, wie sie Mitte Juni bekanntgab. Dies sind fast 100 Prozent mehr als 2022. Erfasst wurden u. a. zehn Fälle »extremer Gewalt«, 40 Angriffe, 46 Bedrohungen und 27 Sachbeschädigungen
Fünf erfasste Vorfälle täglich
2023 wurden 1.926 Fälle von antimuslimischen Übergriffen und Bedrohungen registriert, wie Ende Juli die »CLAIM-Allianz« berichtete. Dies sind rund 114 Prozent mehr als 2022. Vier versuchte Tötungen, fünf Brandstiftungen, 178 Körperverletzungen, 93 Sachbeschädigungen sowie sechs weitere Gewalttaten zählte der Bericht neben anderen Delikten auf.
14 erfasste Vorfälle täglich
Im Anfang Juni vorgestellten Bericht der Amadeu-Antonio-Stiftung »Lagebild #13: Antisemitische Allianzen seit dem 7. Oktober« wird deutlich, wie auch Antisemitismus zunehmend salonfähig wird. Dies bestätigen auch Zahlen des Bundeskriminalamtes über solche Straftaten in 2023. Demnach waren 5.164 Fälle ein neuer Höchststand – darunter sind 148, die als Gewalttaten kategorisiert wurden. 2022 waren es insgesamt 2.641 Fälle.