Schleichender Beginn
8. September 2024
Forschungsprojekt zur Etablierung des Faschismus in Deutschland am Beispiel Pfungstadt
»Die freundliche Kleinstadt Pfungstadt befindet sich im Südwesten Deutschlands. Sie liegt zehn Kilometer südlich von Darmstadt, elf Kilometer östlich des Rheins, acht Kilometer westlich des Odenwalds und sechsundfünfzig Kilometer nördlich von Heidelberg.« Mit dieser geografischen Einordnung beginnt der US-amerikanische Historiker David E. Arns sein Buch über die Faschisierung in Deutschland am Beispiel der südhessischen Kleinstadt Pfungstadt, die heute knapp 25.000 Einwohner*innen zählt. Arns’ Forschungsprojekt, an dem er mehrere Jahre arbeitete, begann 1972.
»Die Demokratie starb in Pfungstadt aufgrund der kurzsichtigen Sichtweise der Mittelschicht, einer Kurzsichtigkeit, die durch die scheinbar unlösbare Wirtschaftskrise verursacht wurde« (S. 15), so Arns’ klare Analyse. Der Historiker beschreibt, wie die Faschisierung des Mittelstands in Pfungstadt schleichend beginnt.
»Die NSDAP sah ihr Hauptziel darin, die starke Position der Arbeiterschaft zu brechen. Sie vergaß den Mittelstand nicht. Am 25. Januar 1928 erschien im Pfungstädter Anzeiger ein kleiner Artikel mit der Überschrift ›Mittelstand erhebe dich‹« (S. 51). Arns beschreibt, wie wirtschaftsnahe Organisationen zunächst auf ihre parteipolitische Neutralität pochten. Ihre Hauptangriffspunkte waren die in SPD und KPD gespaltene Arbeiter*innenbewegung, aber auch die Gewerkschaften. Sie polemisierten gegen vermeintlich zu hohe Ausgaben, beklagten die angeblich überbordenden Belastungen der Wirtschaft. Jeglicher Sozialpolitik sagten sie den Kampf an, und besonders die zahlreicher werdenden Erwerbslosen sollte zu Zwangsdiensten herangezogen werden.
Arns zeigte in dem Buch gut auf, wie die nach ihren beiden Hauptprotagonisten Steinmetz-Martin genannte Wähler*innengemeinschaft den Klassenkampf von oben immer mehr verschärfte. Dabei gaben sie sich stets als Stimme der wirtschaftlichen Vernunft aus, die sich gegen eine ideologiegetriebene Politik wehrte, die angeblich das Gemeinwohl schädigt. Das war eine Kampfansage an beide Flügel der Arbeiter*innenbewegung, die Gewerkschaften, aber auch die Organisierungsversuche von Erwerbslosen, deren Zahl nach 1930 im Zuge der Weltwirtschaftskrise sprunghaft wuchs. Erst sehr spät wird klar, dass Steinmetz und Martin, die sich immer als ideologiefrei gerierten, längst mit der NSDAP kooperierten. Nach 1933 setzen sie mit ihren Freunden aus der Wirtschaft die NS-Herrschaft in Pfungstadt durch.
Wie in vielen anderen Städten funktionierte auch in Pfungstadt eine antifaschistische Einheitsfront von unten. Noch am 5. März 1933, nachdem die NSDAP mit ihren deutschnationalen Bündnispartnern bei den schon von Naziterror bestimmten Wahlen eine Mehrheit im Reichstag gewonnen hatte, waren SPD, KPD und unorganisierte Antifaschist*innen dort zum Kampf gegen die Rechtsregierung entschlossen. Das beabsichtigte Hissen der Hakenkreuzfahne am Rathaus von Pfungstadt konnte an diesem Tag verhindert werden. Erst am 7. März gelang es den Nazis mit Hilfe von auswärtigen SA-Kräften doch, ihr Banner an der Rathausspitze zu befestigen. Dazwischen liegt die Niederlage der antifaschistischen Kräfte in der Stadt.
Arns sieht die Verantwortung bei der SPD-Führung. Am Abend des 6. März warteten Mitglieder der SPD und der KPD auf die Rückkehr eines Emissärs, der mit dem hessischen SPD-Politiker Wilhelm Leuschner über einen Aufruf zum Widerstand gegen die Nazis an der Macht verhandeln sollte. »Unter Tränen kehrte der Bote mit der traurigen Nachricht zurück, dass die obersten Stellen den Nazis keinen Widerstand leisten würden. (…) Der Nazismus würde über eine träge Führung, über einen ausbleibenden Widerstand triumphieren« (S. 206).
Die Veröffentlichung des Buches ist auch eine späte Würdigung des Historikers David E. Arns, der bereits 1994 im Alter von 47 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben ist. Sein Bruder Robert Arns schrieb zur deutschen Übersetzung ein Vorwort. Ohne das Engagement von Renate Dreesen, die sich in Pfungstadt seit Jahren um die Erforschung der jüdischen Geschichte verdient gemacht hat, wäre das Buch nicht möglich gewesen. »Leider wiederholt sich heute vieles, was vor wenigen Jahren noch undenkbar erschien« (S. 16), spannt Dreesen einen Bogen zur Jetztzeit.