Hinauf zur Schneekoppe
1. November 2024
Bildungsreise zum Thema Nationalsozialismus im Riesengebirge
Jedes Jahr führt der in Pirna ansässige Verein AkuBiZ Bildungsreisen in Europa zur Geschichte des Nationalsozialismus durch. Vom 5. bis 11. Oktober 2024 ging es in die atemberaubende Grenzregion des Riesengebirges.
Insgesamt 18 Personen waren eine Woche gemeinsam auf den Spuren von Besetzung und Widerstand im Riesengebirge und der Grenzregion zwischen Tschechien und Polen unterwegs. Am ersten Abend gab es am Ausgangspunkt Vrchlabí einen Einführungsvortrag zur Geschichte des Riesengebirges. Vrchlabí selbst liegt auf der Sprachgrenze und war bis zur Entstehung der Tschechoslowakei 1918 zum größten Teil deutschsprachig. Nach 1945 wurde die Stadt tschechisch, und nur sehr wenige deutschsprachige Personen blieben, darunter jene in »gemischten« Ehen und ausgewiesene Antifaschist*innen. Viele andere Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen hatten jedoch bereits kurz vor dem Münchner Abkommen 1938 die sudetendeutschen Gebiete in Richtung Tschechoslowakei verlassen.
Der erste Tag führte die Gruppe in das Stadtmuseum von Žacléř. Aufgrund großer Steinkohlevorkommen wurde die Stadt im 19. Jahrhundert als Industriestandort ausgebaut. In der dort ansässigen Textilfabrik mussten 140 jüdische Mädchen und Frauen aus dem KZ Groß-Rosen unter schwersten Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Zwei Häuser neben dem Stadtmuseum erinnert der erste im Riesengebirge verlegte Stolperstein an Elsa Löwit. Die jüdische Familie Löwit besaß in der Stadt eine Likörfabrik, die neben Hochprozentigem Säfte, Sirup, aber auch Flaschenbier herstellte. Elsa Löwit wurde nach Theresienstadt und von dort aus nach Auschwitz deportiert, wo sie 1943 ermordet wurde.
Am nächsten Morgen ging es von Mala Upa gemeinsam hinauf zur Schneekoppe. In Mala Upa an der Grenzbaude fand 1922 anlässlich der Gründung der Sowjetunion das erste illegale antifaschistische Grenztreffen deutscher und tschechischer junger Kommunist*innen statt. Bis 1933 gab es neun solcher Treffen an unterschiedlichen Orten des Riesengebirges mit bis zu 6.000 Teilnehmenden. Eine zentrale Figur, die während der Reise immer wieder auftauchte, war Leopold Grünwald. Bereits in seiner Jugend Funktionär in der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei wechselte er später zur Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Er war sowohl Redner auf den Riesengebirgstreffen als auch später Autor zahlreicher Bücher über den sudetendeutschen Widerstand gegen die Nazis.
Am Dienstag besuchte die Gruppe das Riesengebirgsmuseum in Vrchlabí und erhielt eine Führung zu Orten ehemaliger Zwangsarbeit in der Stadt. Den Abschluss des Tages bildete ein Auftritt des Chors Pir-Moll, bei dem die gesamte Gruppe zum Mitsingen eingeladen wurde. Einen Tag später ging es von der Spindlerbaude hinunter zum Gedenkfriedhof Borowice auf die polnische Seite. Mehr als 250 belgische Kriegsgefangene mussten bis 1941 an der Spindlerpassstraße bauen und schwere Waldarbeit verrichten, ab 1941 wurden diese Arbeiten dann von sowjetischen Kriegsgefangenen und polnischen Zwangsarbeiter*innen weitergeführt. Diese wurden kurz vor Kriegsende erschossen, einige von ihnen wurden auf dem Friedhof im Wald bei Borowice begraben. Die Reisegruppe legte frische Blumen und Kerzen an den Gräbern ab, bevor sie weiterzog zur Baude Odrodzenie, dem ehemaligen Jugendkammhaus Rübezahl. Wir konnten historische Fotos mit der aktuellen Baude vergleichen und erfuhren mehr über das Jugendherbergswerk und die reibungslose Gleichschaltung und Übergabe an die Hitlerjugend 1933.
Am letzten Tag ging es bei Wind und Nebel wieder hinauf zum Spindlerpass und von dort mit Blick auf den kleinen und großen Teich zur Wiesenbaude. In einem Vortrag ging es um die von der Tschechoslowakei gebauten Bunkeranlagen, die von der Wiesenbaude aus zu sehen sind, und um die Geschichte der antifaschistischen Familie Morche, deren sechs Söhne beim Rotfrontkämpferbund und ein Teil später in der tschechoslowakischen Auslandsarmee gegen Nazideutschland kämpften.
Zwischen dichten Kiefernwäldern und steinigen Bergwegen zeigte sich das herbstliche Riesengebirge während unserer Reise von seiner besten Seite und belohnte uns mit kilometerweiten Blicken. Für die Recherche zu den thematischen Schwerpunkten und ihre Verknüpfung mit Wanderungen in der atemberaubend schönen Natur des Riesengebirges gebührt den Aktiven vom AKuBiZ e. V. aus Pirna Dank.
Buchtipp:
Sala Garncarz war eine der jüdischen Zwangsarbeiter_innen in Žacléř. Ihre Tochter Ann Kirschner hat zum Leben ihrer in die USA migrierten Mutter recherchiert und dazu ein Buch veröffentlicht. Ann Kirschner: Salas Geheimnis. Die Geschichte meiner Mutter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, 368 Seiten, 19,59 Euro (nur antiquarisch erhältlich)
Bildungsurlaub
Bildungsurlaub ist eine bezahlte Freistellungsmöglichkeit für Beschäftigte und umfasst bis zu zehn Tage in zwei Kalenderjahren. Geknüpft ist dieser an einen formalen Antrag beim Vorgesetzten sowie eine als Bildungsurlaub zugelassene Maßnahme. Die genauen Bestimmungen sind in den einzelnen Bundesländern geregelt. In Bayern und Sachsen gibt es keine Bildungsurlaubsgesetze. Mehr Informationen zu Angeboten finden sich auf bildungsurlaub.de oder auch bei der VVN-BdA Bielefeld bielefeld.vvn-bda.de/mitmachen.