Erdoğans Interessen
4. Januar 2025
Bekämpfung der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien
Innerhalb weniger Tage wurde Anfang Dezember die syrische Regierung unter Präsident Baschar al-Assad nach fast 14 Jahren Bürgerkrieg von der dschihadistischen HTS-Miliz und verbündeten, vor allem durch die Türkei finanzierte, Milizen gestürzt. Die HTS, lange als syrischer Al-Qaida-Ableger »Jabhat al-Nusra« bekannt, bemüht sich seit 2016, durch Namenswechsel und öffentliche Abspaltung von al-Qaida um einen Imagewechsel, vornehmlich mit dem Ziel, nicht weiter militärischen Angriffen durch die USA ausgesetzt zu sein, internationale Sponsoren zu sichern und Rückhalt in der Bevölkerung zu finden.
Der Griff nach der Staatsmacht durch diese Gruppen stellt eine grundlegende Veränderung des Machtgefüges in Syrien dar. Der Wandel betrifft auch die nationalen Interessen der Türkei. Der Umsturz im südlichen Nachbarland ist ein länger verfolgtes Ziel der Erdoğan-Regierung. Bereits seit 2018 arbeitet die türkische Armee mit der HTS zusammen. Seit 2020 führen die Syrische Nationale Armee (SNA) und HTS gemeinsame militärische Operationen durch. Die SNA selbst wurde 2017, ursprünglich als »Turkish-backed Syrian National Army« aus Überbleibseln der zerfallenden oppositionellen Milizen gegründet und ist hauptsächlich finanziert und ausgebildet durch die Türkei. Im Sinne einer Islamisierung verfolgt die SNA eine Politik der ethnischen Säuberung der von ihr kontrollierten Gebiete in Nordsyrien von kurdischen und jezidischen Menschen.
Es überrascht also nicht, dass İbrahim Kalın, Leiter des türkischen Geheimdienstes MIT, bereits am 14. Dezember 2024 in Damaskus eintraf und der türkische Außenminister Hakan Fidan am 22. Dezember von HTS-Führer Ahmed al-Scharaa empfangen wurde. Ergebnis der Diplomatie war eine verstärkte Rhetorik, dass das neue Syrien sowohl politisch als auch militärisch zentralisiert werden soll – was sowohl die politische als auch militärische Autonomie von Nord- und Ostsyrien infrage stellt. Der kurdische Politiker Salih Muslim, Mitglied der Partei der Demokratischen Union in Syrien (PYD), erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Mezopotamya: »Wir wissen nicht genau, was bei den Gesprächen der Türkei mit Damaskus besprochen wurde. Es scheint jedoch, dass die Türkei die Botschaft vermittelt: ›Setzt euch nicht mit den Kurden zusammen und nehmt keine Beziehungen zur Selbstverwaltung auf.‹ Die Zerstörung der kurdischen Errungenschaften steht im Mittelpunkt ihrer gesamten Politik.«
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) unterstützte die türkischen Forderungen und verlangte in einer Pressekonferenz am 19. Dezember die Entwaffnung der »Milizen« und ihre Eingliederung in die neu zu bildende syrische Nationalarmee unter der Führung der islamistischen HTS. Sollte es zur Demobilisierung des militärischen Bündnisses der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) kommen, würde dies die Autonomiegebiete im Nordosten Syriens ungeschützt lassen.
Baerbock hob den »heldenhaften Widerstand« der Kurd*innen gegen den »Islamischen Staat« hervor, definierte die daraus entwickelte Selbstverwaltung im Norden Syriens dennoch als Bedrohung für die Türkei. Dabei dürfte Baerbock auch klar sein, dass die Entwaffnung der kurdisch-dominierten Verteidigungskräfte nicht nur das Ende der Selbstverwaltung bedeuten würde, sondern dadurch die unterdrückten Minderheiten der Willkür des türkischen Staates und der HTS überlassen würden – so wie auch alle anderen sich dem islamistisch-fundamentalistischen Projekt entgegenstellenden Teile der syrischen Bevölkerung. Die demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES – Democratic Autonomous Administration of North and East Syria, einst: AANES) bleibt die einzige organisierte und bewaffnete Kraft, die nicht nur eine Alternative zum islamischen Fundamentalismus und dem Wiedererstarken des IS in der Region ist, sondern über den Mittleren Osten hinaus das Projekt von Selbstverwaltung auf der Grundlage von Basisdemokratie, Frauenbefreiung und ökologischer Nachhaltigkeit als Lösung für Kriege und Krisen propagiert und umsetzt.
Während Baerbock vor einigen Monaten noch stolz die Parole »Jin, Jîyan, Azadî« (Frauen, Leben, Freiheit) der kurdischen Frauenbewegung unterstützte, intensiviert sie nun die Beziehungen zum türkischen Staat. Diese »feministische Außenpolitik« scheint dabei weniger den globalen Einsatz für die Rechte unterdrückter Frauen im Blick zu haben, sondern vielmehr die geopolitischen Interessen Deutschlands zu verfolgen: Schwächung Russlands in der Region, Möglichkeit der Abschiebung hundertausender Syrier*innen und Rückendeckung für den NATO-Partner Türkei auch im Hinblick auf die Gegnerschaft zu Russland und den Iran. So stimmte Deutschland erst im Oktober 2024 dem Verkauf von »Eurofighter«-Jets an die Türkei zu. Aktuell nutzt die Türkei Kriegsflugzeuge ausschließlich, um die Gebiete der DAANES zu bombardieren sowie die Gebirgszüge im Nordirak, die unter Kontrolle der PKK-Guerilla HPG sind. Vor allem in der DAANES werden hierbei überwiegend Zivilist*innen und zivile Infrastruktur bombardiert. Inwieweit der mögliche Bau einer Gaspipeline von Katar aus, als Alternative zu russischem Gas, für Deutschland auch eine Rolle spielt, bleibt offen.
Neuigkeiten aus der Region über die kurdische Nachrichtenagentur ANF (anfdeutsch.com)
Längere Analysen zur Befreiung der Frau in den Autonomiegebieten unter anderem vom Andrea-Wolf-Institut unter jineoloji.eu