Unterbelichteter Aspekt

geschrieben von Kristin Caspary

4. Januar 2025

Die Library of Lost Books bringt den NS-Raub von Schriftgut in die Öffentlichkeit

NS-Raubgut ist in Film und Buch immer wieder Thema der Auseinandersetzung mit der Nazizeit. Meist geht es dann um wertvolle Skulpturen, Gemälde oder Kultgegenstände. Der millionenfache Bücherraub verblasst dahinter.

Ab 1934 ergingen insgesamt vier Ministerialerlasse, durch die Gewerkschaften und kommunistische Verbände enteignet und auch deren materielles Vermögen verwertet wurde. Später folgte die Enteignung und Verwertung jüdischer und hebräischer Literatur. Die sogenannte Reichstauschstelle, angesiedelt in der Preußischen Staatsbibliothek, war damit betraut, die Verteilung der Bücher an Bibliotheken im ganzen Reich zu besorgen. Dieser Prozess erfolgte nicht unentgeltlich, wie ein aufgrund seines Umgangs herausragender Fall zeigt: 1943 kaufte die Berliner Stadtbibliothek, heute ZLB, insgesamt 40.000 dieser Bücher der Pfandleihanstalt ab.

Es ging den Nazis bei der Enteignung »volksfeindlicher Elemente« allerdings nie nur um Kriegsakquise, sondern um die vollständige Auslöschung der Bestohlenen. Die Konsequenzen dieses Versuchs ziehen sich bis in die Gegenwart: Wenn in der BRD-Öffentlichkeit der mediale Fokus oft auf den Kunstraub gelegt wird und dahinter die massenhafte Enteignung von Schriftgut aller Jüdinnen sowie Juden zurückbleibt, dann weiß man nicht um den Stellenwert der Schrift im Judentum. Die zentrale Rolle der Schrift trat nach der Befreiung alsbald für jüdische Überlebende in den Displaced Persons Camps zutage, die sich umgehend auf die Suche machten nach religiösen Schriften zur Ausübung der Rituale. Fündig wurden sie beispielsweise im »Offenbach Archival Depot«, in dem die Alliierten NS-Raubgut zusammentrugen.

Restitutionsvorhaben orientierten sich zuerst an eindeutig zuzuordnenden wertvollen Kunstwerken. Angesichts der schieren Zahl der durch die Nazis Ermordeten stießen sie schnell an Grenzen, denn in einer nicht umfänglich digitalisierten Welt gestaltete sich das Aufspüren von Überlebenden und Nachkommen ungleich schwerer als heute.

Über die Suche nach den geraubten Büchern, angelegt als Citizen-science-Projekt, bringt die Library of Lost Books den unterbelichteten Aspekt des millionenfachen Raubs von Schriftgut im NS in die Öffentlichkeit. Gleichzeitig animiert es die Besucher_innen der Onlineausstellung dazu, selbst aktiv zu werden und sich an der Büchersuche in lokalen Institutionen zu beteiligen. Die Library of Lost Books ist damit auch ein Versuch, neue, partizipative Wege der Erinnerungsarbeit in einer digitalisierten und globalisierten Welt zu gehen.

Über die Suche nach den geraubten Büchern, angelegt als Citizen-science-Projekt, bringt die Library of Lost Books den unterbelichteten Aspekt des millionenfachen Raubs von Schriftgut im NS in die Öffentlichkeit. Gleichzeitig animiert es die Besucher_innen der Onlineausstellung dazu, selbst aktiv zu werden und sich an der Büchersuche in lokalen Institutionen zu beteiligen. Die Library of Lost Books ist damit auch ein Versuch, neue, partizipative Wege der Erinnerungsarbeit in einer digitalisierten und globalisierten Welt zu gehen.

NS-Raubgut wurde nicht nur zwischen 1934 und 1945 in deutschen Bibliotheken verteilt, sondern auch in den Jahren nach der Niederlage des Faschismus. Erst mit der Washingtoner Erklärung 1998, die die 44 unterzeichnenden Staaten dazu anhielt, NS-Raubgut zu identifizieren, rechtmäßige Besitzer oder Nachkommen auszumachen und die Güter zu restituieren, kam in Deutschland die Provenienzforschung (Forschung zur Geschichte von Kulturgütern) in Gang. Seitdem gab und gibt es verschiedene Projekte, die zumeist prekär aufgestellt sind. Sie haben gemein, sich der Spurensuche in deutschen Archiven und Bibliotheken anzunehmen.

Die Library of Lost Books versucht als Projekt die nationalen Grenzen zu verlassen, die durch die Washingtoner Erklärung als ethische, aber nicht rechtlich bindende Verpflichtung in die Provenienzforschung kamen. Als Kooperation der Leo-Baeck-Institute in Jerusalem und London, unterstützt von den Leo-Baeck-Unterstützungsvereinen in Berlin und Frankfurt am Main, will das Projekt eine bestimmte geraubte Bibliothek aufspüren: die der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die bis 1942 in der Berliner Tucholskystraße 9 (heute Sitz des Zentralrats der Juden) existierte. Leo Baeck, Vertreter des liberalen Judentums und ein wichtiger Vertreter des deutschen Judentums in der Zeit des Faschismus, wirkte unter anderem dort.

Die Resonanz, die das Projekt erfährt und die deutlich wird in den zahlreichen Einträgen, die es bislang bereits in der Datenbank gibt, belegt die Notwendigkeit und die Chancen neuer Konzepte der Erinnerungsarbeit.

Link zum Projekt:

libraryoflostbooks.com