Das jüdische Dilemma
12. März 2025
Anpassung und Autonomie: Natan Sznaiders neues Buch gegen deutsche Vergessensbereitschaft
Das Buch betrachtet die jüdische Wunde als Identitätskern im Kontext der europäischen Aufklärungsgeschichte. Und es schließt mit einer ersten Aufarbeitung des Überfalls 2023 in Israel. -Sznaider begann die Niederschrift des Buchs vor dem 7. Oktober. Es ist wegen der politisch engagierten Schreibweise des Autors in Teilen des letzten Hauptkapitels anzunehmen, dass diese nach dem Überfall der Hamas und anderer geschrieben wurden. Das Buch ist in Gänze eine Streitschrift gegen deutsche Vergessensbereitschaft (S. 107).
Natan Sznaider ist Soziologe; er lebt in Israel und Deutschland. Der Autor schreibt mit einer ausgesprochen persönlichen Handschrift – im ersten und zweiten Hauptkapitel souverän-literarisch über das Wohl und Wehe der Folgen der Aufklärung für das Judentum in Deutschland; im dritten Hauptkapitel mahnend und anklagend. Das Buch macht die Leiden des Judentums gleichsam sichtbar. Dabei polarisiert Sznaider einerseits zwischen dem Universalismusgebot der Aufklärung (bürgerliche Vernunft und Toleranz als universelle Urteilsinstanz) und andererseits dem Leitbild jüdischer Identität als Partikularismus (Religion, Tradition, Kultur, Lebensweise) als Jahrhunderte währende Spannung (S. 28) zwischen diesem Allgemeinen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und dem Besonderen der jüdischen Minderheit. Lessings Nathan der Weise (S. 47) steht gewissermaßen als Pate für die aufklärerische Universalismusformel und für ein allgemeines Toleranzgebot; die deutsche und – seit den 1950er-Jahren – US-amerikanische Jüdin Hannah Arendt (S. 99) als Protagonistin eines widerständigen Partikularismus.
Sznaider beschreibt mit seinem literarischen Gang durch die Kulturgeschichte der Aufklärung das wiederkehrende Scheitern jener Juden und Jüdinnen, die ihr Heil in der kulturellen Assimilation an den Universalitätsanspruch der Mehrheitsgesellschaft suchten. Der Aufklärer Lessing (S. 38 ff.) forderte im 18. Jahrhundert von seinen jüdischen Gesprächspartnern, sich auf eine universalistische Weltanschauung der Vernunft und Toleranz einzulassen. Damalige jüdische Philosophen wie Moses Mendelssohn taten das (S. 56). Aber: Egal, ob sie sich gleichsam »unsichtbar« im Gewande des bürgerlichen Universalismusgebots machten oder »sichtbar« jüdisch blieben, sie wurden im 20. Jahrhundert durch den Nationalsozialismus ausgegrenzt, verfolgt, deportiert, ermordet (S. 165). An diese Apokalypse in der Moderne schloss sich die Apokalypse am 7. Oktober 2023 an: als jüdische Zivilisten in Israel barbarisch niedergemetzelt wurden (S. 33).

Natan Sznaider: Die jüdische Wunde – Leben zwischen Anpassung und Autonomie. Carl Hanser Verlag, München 2024, 272 Seiten, 26 Euro
Sznaider ruft nach Solidarität; er klagt Solidarität ein: Dabei geht es nicht nur um die Frage, »wie sie [die Jüdinnen und Juden, antifa] mit der jüdischen Wunde leben. Auch geht es nicht um einen Vertrauensbruch zwischen Juden und Deutschen in Deutschland, da dieses Vertrauen seit 1945 ohnehin nur eine ritualisierte Illusion ist« (S. 199). Diese Haltung -Sznaiders rührt aus seinem Unbehagen gegenüber den Versöhnungs- und Wiedergutmachungsgesten bundesrepublikanischer Prägung. So schreibt Sznai-der: »(…) kann man überhaupt den Mördern der Eltern und Großeltern vergeben und sich mit ihnen versöhnen?« (S. 64) sowie »(…) es geht nicht nur darum, die [deutsche, antifa] Niederlage zu akzeptieren, auch eine positive politische Willenserklärung müsse an die Opfer gerichtet sein« (S. 100).
Er zitiert Hannah Arendt – aus ersten Briefen nach 1945 – mit der Frage, ob die den Holocaust Überlebenden nach Deutschland zurückkehren sollten: »Mir scheint, keiner von uns kann zurückkommen (…) nur weil man nun wieder bereit scheint, Juden als Deutsche oder sonst was anzuerkennen; sondern nur, wenn wir als Juden willkommen sind« (S. 100).
Und Sznaider 2024: »Das ist nicht geschehen (…) Juden können nach 1945 nicht einfach wieder zu Menschen werden« (S. 100). Ein Satz, wie ihn der deutsche Sozialphilosoph Theodor W. Adorno nach seiner Rückkehr aus dem Exil gleichbedeutend schrieb: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«1.
Sznaider formuliert vorsichtig mögliche Wege des Gemeinsamen zwischen Opfer und Täter: »Tragödien können auch Brücken zwischen den Spannungen Universalismus und des Partikularismus schlagen, weil sie zu beiden Bereichen gleichzeitig gehören. Das ist Ambiguitätstoleranz und Teil des jüdischen Schicksals, wobei es um Konflikt und nicht Harmonie geht. Es geht dabei nicht um Versöhnung, nicht um die Schließung der Wunden, die nicht geschlossen werden können, sondern um die Konfrontation mit diesen Wunden« (S. 225). -Sznaider fordert einen ambiguitätstheoretischen Diskurs »der jüdischen Wunde« (S. 227).
Gerade nach den politischen Debatten zum Gaza-Krieg erscheint es mir unerlässlich, dass wir uns auf die kollektiven Re-Traumatisierungen im Judentum einlassen. Das bedeutet überhaupt nicht(!), die Gaza-Kriegs-Politik der israelischen Regierung zu rechtfertigen. Das bedeutet, dass die jüdische Lebenswelt auch in Israel von uns verteidigt wird. -Sznaider: »Es geht darum, den Versuch zu machen, die sich antagonistisch gegenüberstehenden Gruppen ins Gespräch zu bringen, ohne dass sie ihre Identitätsbildungen aufgeben müssen« (S. 228).
1 Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1977, S. 30