Zweifel und Argwohn

geschrieben von Kristin Caspary

6. Mai 2025

Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes

Die Hoffnung auf bessere Zeiten in Syrien lenkte den Blick schnell in die Richtung eines Mannes: Ahmed al-Scharaa, der die islamistischen Milizen Hai’at Tahrir asch-Sham (HTS) anführte und seit Ende Januar nun als Interimspräsident der Arabischen Republik Syrien fungiert. Sein Lebensweg ist gezeichnet durch die Mitgliedschaft in verschiedenen islamistischen Gruppierungen, über al-Qaida bis zur al-Nusra-Front. Entsprechend verhalten fielen viele internationale Reaktionen aus.

Er selbst begegnete diesen Bedenken schnell mit Distanzierung von seiner fundamentalistischen Vergangenheit und einem Bekenntnis zum Schutz der Minderheiten.

Eine »militärische Operation« an der syrischen Küste gegen vermeintliche Assad-Anhänger im März, die hunderte Tote forderte, und die im gleichen Monat verabschiedete Verfassungserklärung, die eine fundamental-islamische Hegemonie im Land festschreibt, nährten die Zweifel weiter. Insbesondere die Menschen in den selbstverwalteten Gebieten Nordostsyriens stehen den jüngsten Ereignissen historisch informiert kritisch gegenüber, während sie gleichzeitig mit einer sich potentiell verändernden politischen Situation nach dem Appell Abdullah Öcalans zur Auflösung der PKK umgehen müssen.

Ashti von Adopt a Revolution sprach mit antifa über drei entscheidende Aspekte, die er für eine Stabilisierung Syriens als zentral ansieht: die ökonomische Situation vor Ort, die pluralistische Bevölkerung Syriens und die Aufarbeitung der Verbrechen der Assad-Diktatur. Omar selbst konnte jüngst das erste Mal seit seiner Flucht vor zehn Jahren nach Syrien reisen und vor Ort mit Menschen und Partnerorganisationen sprechen. Ihm zufolge beobachten die meisten Syrer_innen das Handeln al-Scharaas mit Argwohn. Zugleich herrscht Unverständnis darüber, warum die einst gegen Assad verhängten Sanktionen nun nahtlos auf al-Scharaa übertragen werden. Trotz der Ereignisse an der Küste und der intensiven Debatte um die Verfassungserklärung seien die Menschen nicht bereit, in Frage zu stellen, dass der Sieg über das Assad-Regime am Ende ein Sieg für alle Syrer_innen sein wird.

Nach all den Jahren seien sie so müde, dass es ein Sieg für alle werden müsse, eine Alternative dazu stelle sich gar nicht. Diese Hoffnung aus Notwendigkeit ist mit dem Ende der Sanktionen verbunden. Zwar habe sich die ökonomische Situation nach dem Sturz von Assad nicht verschlimmert, was sich aber verändert habe, sei die große Hoffnung, dass sich schnell etwas zum Positiven verändert: »Mit der Regierungsbildung Anfang April ist die Hoffnung konkreter geworden: Es muss jetzt was passieren, die Minister sind auf ihren Posten und können und müssen was tun«, berichtet Ashti von den Diskussionen vor Ort. »Gleichzeitig haben die Menschen Angst: Jetzt wird es konkret, jetzt muss die Regierung liefern. Wenn das nicht passiert, was dann?«

Die Verfassungserklärung habe viel Unsicherheit bei den Menschen vor Ort ausgelöst, gleichzeitig sei nicht zu erwarten gewesen, »dass dabei etwas rauskommt, was den Syrer_innen dabei helfen könnte, ihren Traum eines gerechten Syriens aufzubauen«. Die Partnerorganisationen vor Ort hielten es für umso wichtiger, die Entwicklungen nicht einfach zu akzeptieren, sondern am Prozess dran zu bleiben und die entstandenen Spielräume zu nutzen. Tatsache sei, dass die neue Regierung nicht stabil genug und demnach nicht in der Lage sei, »um alles zu unterdrücken, wie Assad es getan hat – ob sie es versuchen will oder nicht, bleibt offen«. Die Hoffnung ist groß, dass die Menschen in Syrien ein neues autoritäres Regime verhindern werden.

Diese Hoffnung speist sich auch aus den Diskussionen vor Ort über die Frage, wie ein Prozess aussehen könnte, der die Verbrechen des Assad-Regimes aufarbeitet und Gerechtigkeit für alle schafft. Gleichzeitig sei dieses Thema extrem komplex, denn »alle De-facto-Autoritäten in Syrien, auch die jetzt regierenden, haben Menschenrechtsverletzungen begangen«. Der Fokus der Debatte liege zurzeit aber auf den Verbrechen des gestürzten Regimes, wegen des »Ausmaßes und der Intensität, und weil man sich darauf einigen kann – alle sind sich einig über die Verbrechen des Regimes«. Die Menschen vor Ort gingen allerdings davon aus, dass die neue Regierung an der Aufarbeitung nicht allzu interessiert sei, die wirtschaftliche Situation sei wichtiger: »Die Aufarbeitung muss zivilgesellschaftlich durchgesetzt werden, denn ohne Aufarbeitung können die Menschen gar nicht zusammen leben«.

Zusammenbruch des Assad-Regimes

Vom Beginn einer militärischen Offensive unter der Führung der islamistischen Miliz Hai’at Tahrir asch-Sham (HTS) bis zum Sturz des Regimes unter Baschar al-Assad vergingen im Dezember 2024 elf Tage. Seit 1970 regierte die Assad-Familie die Menschen in Syrien mit eiserner Faust. Auf Hafiz al-Assad folgte 2000 sein Sohn Baschar, der den Griff nicht lockerte, sondern im Gegenteil noch härter werden ließ. Zehntausende Menschen verschwanden während der Diktatur, wurden verhaftet, gefoltert, ermordet. Symbolisch steht für diese Verbrechen das Gefängnis Saidnaya im Norden von Damaskus. Die Bilder aus dem Inneren des Foltergefängnisses gingen als Zeugnisse der Brutalität des Regimes Ende 2024 um die Welt. Nach Jahrzehnten grausamer, willkürlicher Repression, Flucht, Bürgerkrieg und Wirtschaftskrise war die Freude der Syrer_innen weltweit entsprechend immens. Sie feierten den Zusammenbruch des Regimes als Sieg aller Landsleute, das Wort Hoffnung fand nach all der Zeit seinen Weg zurück in den öffentlichen Diskurs. Der Wunsch auf eine bessere Zukunft, ein Leben in Frieden, eine Besserung der horrenden ökonomischen Situation, die Aufarbeitung der systematischen Menschenrechtsverbrechen war allgegenwärtig.