Für ein plurales Erinnern

geschrieben von Bernd Hüttner

6. Juli 2025

Beiträge aus Wien zu einer vielfältigen Erinnerungspraxis

Mit der Vergangenheit und deren Deutung wird die Zukunft einer Gesellschaft verhandelt. Das Buch »Erinnern in Zukunft« will »gewohnte Narrative der Erinnerung« hinterfragen und plädiert dafür, dass »eine gerechte, demokratische und friedliche Zukunft eine Erinnerungspraxis (braucht), die offen für verschiedene Perspektiven ist und Raum für vielstimmige Erfahrungen der heutigen Gesellschaft lässt« (S. 12). Entstanden ist es in Wien, wo in der Brunnenpassage am Yppenplatz seit 2021 verschiedene Aktivitäten unter diesem Vorzeichen stattfinden.

Hintergrund war und ist es, einen dort gelegenen und stillgelegten Bunker in einen von der städtischen Zivilgesellschaft gestalteten und getragenen Ort der Erinnerung und des Gedenkens umzuwidmen. Der Bunker soll im sprichwörtlichen Sinne geöffnet werden, um Raum für viele Stimmen aus der aktuellen, multinationalen Stadtgesellschaft zu bieten1. Es sollen neue Perspektiven in die offizielle ebenso wie in die klassisch linke Erinnerungspolitik eingebracht werden. Dabei ist klar, dass Widersprüche existieren und Toleranz sehr hilfreich, wenn nicht unabdingbar ist.

Der Ruf nach Pluralität ist im Grunde ein Nachvollzug bereits bestehender Tatsachen, denn durch Flucht und Einwanderung ist die Bevölkerung heute vielfältig. Damit haben sich auch die familiären Erinnerungen und gesellschaftlichen Erinnerungstraditionen stark verändert. Diese Vielfalt wird aber, in Österreich noch stärker als in Deutschland, ausgeblendet und an den Rand gedrängt. Wessen Geschichte und Erinnerung in der Gesellschaft nicht vorkommt, für den und die ist eine Identifikation mit der Gegenwartsgesellschaft aber erschwert bis sehr schwierig. Erinnern ist immer und unweigerlich mit Macht verbunden, es ist höchst umstritten, wer sprechen darf, wer gehört und wem überhaupt zugehört wird.

Intervention für eine lebendige und multiperspektivische Erinnerungspraxis: Das Geschichtsprojekt zum vergessenen Bunker unter dem Yppenplatz in Wien. Foto: brunnenpassage.at

Intervention für eine lebendige und multiperspektivische Erinnerungspraxis: Das Geschichtsprojekt zum vergessenen Bunker unter dem Yppenplatz in Wien. Foto: brunnenpassage.at

Der Band enthält relativ viele, meist kurze Beiträge unterschiedlicher Formate, insgesamt sind es fast drei Dutzend. Sie stammen vor allem von Eingewanderten aus verschiedenen Ländern, die ihre Geschichte oder ihre Perspektive vermitteln. Das am Ende dokumentierte, zehn Punkte umfassende (und in Deutschland entstandene) »Manifest einer pluralen Erinnerungskultur« fasst das Anliegen des Bandes nochmals gut zusammen2. Dieser kann gut zeigen, dass Erinnern heute unweigerlich plural ist, und dies auch sein sollte. Die Konflikte, die daraus resultieren, bleiben jedoch eher ausgespart. Ein gemeinsames Ziel und Ideal könnte es jedoch sein, »die Gegenwart so einzurichten, dass sich diese Katastrophe, die wir Vergangenheit nennen, nicht wiederholt« (Max Czollek, S. 53).

Michael Podgorac, Anne Wiederhold-Daryanavard (Hg.): Erinnern in Zukunft. Aufrufe für plurales Erinnern. Mandelbaum Verlag, Wien 2025, 208 Seiten, 23 Euro

1 https://www.brunnenpassage.at/audiovisuell/erinnern-in-zukunft

2 https://cppdnetwork.com/wp-content/uploads/2025/04/MANIfest_V05_RZ.pdf