Verleugnete Geschichte

geschrieben von Liane Lieske und Mareike Borger

6. Juli 2025

Ein Buch zu 80 Jahren Frankfurter Rundschau

Das Buch »Zeitung im Kampf« verspricht viel: Die erste »ausführlich zusammenhängende« Darstellung der bewegten Geschichte der Frankfurter Rundschau (FR), die im August ihren 80. Geburtstag feiert. Illustriert mit zahlreichen Fotos erzählt Claus-Jürgen Göpfert die Geschichte der Zeitung, in deren Redaktion er von 1985 bis 2020 arbeitete. 35 Jahre lang berichtete er aus der Mainmetropole und wurde bei der Buchvorstellung Ende Mai als »eine Instanz der Frankfurter Kommunalpolitik« bezeichnet.

Vor diesem Hintergrund mit seinen persönlichen Erfahrungen, Informationen aus Archiven und Bio-grafien, mit Hilfe zahlreicher Zeitzeug*innen wie Daniel Cohn-Bendit sowie Hintergrundgesprächen gelingt dem Autor eine tiefgründige und spannende Nacherzählung des Aufstiegs der FR von einer Lokalzeitung zu einer überregionalen Zeitung und auch ihres Niedergangs und ihrer Insolvenz.

Er beginnt mit ihrer Gründung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und zeigt die ideologischen Konflikte während des Kalten Krieges auf, welche die Arbeit der ersten Redaktionen der Zeitung überschatteten. Darauf folgten die Auslandsberichterstattungen und Revolten der 1960er-Jahre, der Aufstieg zum Leitmedium in den 1970er-Jahren, die Umwelt- und Friedensbewegungen der 1980er bis zu den Krisen seit den 2000ern. In den letzten zwei Jahrzehnten geriet die Zeitung in eine wirtschaftliche Abstiegsspirale. Von 1.700 Beschäftigten in Redaktion, Verlag und Druckerei im Jahre 1985 blieben bei der Insolvenz im Jahre 2012 nur noch 28 Redakteure übrig, so Göpfert in seinem Prolog.

Für jedes turbulente Jahrzehnt diskutiert Claus-Jürgen Göpfert die relevanten historischen Ereignisse, die neuesten technologischen Entwicklungen und die hitzigen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen. Denn, so betont der Autor, die Geschichte der Zeitung spiegele »die radikalen technischen und publizistischen Veränderungen« ihrer Zeit wider. Das Buch verknüpft geschichtliche, politische und gewerkschaftliche Zusammenhänge zu einer spannenden Lektüre – auch wenn man die Zeitung selbst nie gelesen hat. Besonders interessant ist die Geschichte des Feuilletons, der Göpfert mehrere Kapitel widmet, wie auch der Bedeutung der Zeitung für die Gewerkschaftsbewegung. Von der ersten Betriebsbesetzung der FR in den 70ern bis heute zeichnet der Autor die Streiks der Belegschaft der Zeitung wie auch der Druckereien und Zeitungsverkäufer aus deren Perspektive nach. Kein Wunder, er hat diese Auseinandersetzungen hautnah erlebt und begleitet; als er 2020 die FR verließ, war er Betriebsratsvorsitzender.

Claus-Jürgen Göpfert: Zeitung im Kampf. 80 Jahre Frankfurter Rundschau oder: Niedergang des linksliberalen Journalismus?«. VSA, Hamburg 2025, 232 Seiten, 16,80 Euro

Claus-Jürgen Göpfert: Zeitung im Kampf. 80 Jahre Frankfurter Rundschau oder: Niedergang des linksliberalen Journalismus?«. VSA, Hamburg 2025, 232 Seiten, 16,80 Euro

Ein besonderes Augenmerk legt Göpfert jedoch nicht auf seine Zeit bei der FR, sondern auf deren Gründungsphase von 1945 bis 1947, denn diese Zeit werde auch von der Zeitung selbst später gern verleugnet. Unterschlagen werde zum Beispiel die Rolle von Emil Carlebach: An ihm und seiner Familie zeigt Göpfert die Situation von Kommunist*innen in der Nazi- und in der Nachkriegszeit sowie ihre Rolle bei der Etablierung einer freien Presse im Nachkriegsdeutschland (siehe Spalte).

Bemerkenswert in diesem Band ist die Vielzahl an Bildern, unter anderem aus dem privaten Archiv des Autors und von zwei ehemaligen FR-Fotografen. Sie zeigen nicht nur die Mitarbeiter*innen der Zeitung, sondern auch die vielen Gebäude, in denen die Zeitung ein Zuhause fand, unter anderem das Rundschau-Haus im Herzen von Frankfurt am Main wie auch den ersten Verlagssitz (mit Druckerei) in einem halbzerstörten Gebäude im Jahr 1945. Besonders die Doppelseiten für jedes Jahrzehnt sind hervorzuheben. Dazu kommen Interviews mit früheren und aktuellen FR-Redakteur*innen wie Jutta Roitsch und Hanning Voigts. Claus-Jürgen Göpfert schaut auch aus einer Gender-Perspektive auf die Geschichte der FR: Er berichtet unter anderem über frühere Journalistinnen wie Annamarie Doherr, Ulrike Füssel oder Martina Kischke, die zum Teil »leider in Vergessenheit geraten« sind, und diskutiert die geschlechtsspezifischen Rollenverteilungen innerhalb der Zeitung in der Gründungsphase bis heute.

Der Autor begann seine journalistische Laufbahn bei der Frankfurter Neuen Presse (Erstausgabe 1946). Der Schwerpunkt seiner Beschreibungen liegt weniger in der Entwicklung der Presselandschaft. Vielmehr konzentriert er sich auf die Entwicklung, die die Frankfurter Rundschau als ehemaliges Leitmedium innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten 80 Jahre genommen hat. Dabei mag es Leerstellen in der Darstellung geben, die aber bei weitem durch die detaillierten Beschreibungen zahlreicher Akteure und ihrer Hintergründe wettgemacht werden – insbesondere die Aufarbeitung der Geschichte von Emil Carlebach als »verdrängten Gründer«, den man 1995 beim 50-jährigen Jubiläum der Zeitung »vergessen« hatte einzuladen.

Eine klare Empfehlung für alle, die sich mit der Frankfurter Rundschau und der deutschen Geschichte des Journalismus nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen wollen!

Drei Kommunisten und die Presse

Emil Carlebach ist neben Arno Rudert und Otto Grossmann einer der drei Kommunisten, die zusammen mit vier anderen »Gründungsvätern« die Lizenz für die erste demokratische deutsche Zeitung in der US-Besatzungszone erhielten. Carlebach war unter anderem für den Lokalteil der neuen Zeitung verantwortlich, legte sich jedoch schnell mit seinen antifaschistischen und zentralistischen Themen mit der US-amerikanischen Militärregierung an. Ein Jahr später wurde ihm die Lizenz aus »politischen Gründen« wieder entzogen, so die Enkelin Carlebachs. Im FR-Impressum stand viele Jahre das Gründungsjahr 1946 und als Herausgeber Karl Gerold, dem Göpfert auch einige Seiten im Buch widmet. Carlebach wurde zu einer Leerstelle der Verlagsgeschichte.