Ihnen überhaupt mal zuhören
6. September 2025
Ein Film erinnert an die Opfer des Anschlags in Mölln 1992. Gespräch mit der Regisseurin Martina Priessner
antifa: Wie ist die Idee zum Film entstanden?
Martina Priessner: Ich habe Ibrahim Arslan, der den Anschlag als Siebenjähriger überlebte, bei einer anderen Filmvorführung in Offenbach getroffen. Dort hat er mir von den Briefen erzählt. Ich war erst mal sprachlos, und dann hat die Geschichte nicht aufgehört, in mir zu arbeiten. Für mich persönlich war Mölln 1992 eine Zäsur. Ich war damals 23, und es war der Beginn meiner Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und der Kontinuität rechten Terrors. Nach zwei Wochen habe ich ihn angerufen und gefragt, ob er Lust hat, eine Dokumentation darüber zu machen. Nachdem er sich dazu bereit erklärt hatte, habe ich die restliche Familie kennengelernt. Für Ibrahim war besonders wichtig, dass der Film als Projekt den Rückhalt der gesamten Familie hat.
antifa: Alle Protagonist*innen erzählen von den Ereignissen und den Konsequenzen des Brandanschlags aus ihrer eigenen Perspektive. Das muss großes Vertrauen vorausgesetzt haben.
M. P.: Nach einem intensiven Austausch mit Ibrahim war ich bei der Gedenkveranstaltung »Möllner Rede im Exil« und danach bei der Familie zu Kaffee und Kuchen und habe ihnen das Projekt auf Türkisch vorgestellt. Das war sicher ein Türöffner, um Vertrauen aufzubauen, um zu zeigen, dass wir uns auf Augenhöhe bewegen. Ich sehe mich als Verbündete, und das konnte ich dadurch zeigen. Natürlich war der Prozess nicht immer einfach, aber es gab ein großes Interesse daran, das Projekt gemeinsam zu entwickeln, und es gab ein gegenseitiges Interesse am jeweiligen Blick auf die Ereignisse.
antifa: Welche Herausforderungen haben sich euch im Prozess gestellt?

Im Winter 1992 verübten Neonazis einen Brandanschlag auf zwei Wohnhäuser in Mölln. Sie ermordeten Ibrahim Arslans Großmutter, seine Schwester und seine Cousine, er selbst überlebte nur knapp. Hunderte Menschen schrieben bundesweit Briefe an ihn und seine Familie, um ihre Solidarität zu bekunden, ein wenig Trost zu spenden und praktische Hilfe anzubieten. Die Stadt Mölln gab diese Briefe nicht an die Familie weiter. Der Kinofilm »Die Möllner Briefe« zeichnet die Geschichte der Familie, ihr anhaltendes Trauma und ihren auf den Anschlag folgenden Kampf gegen strukturellen Rassismus durch Behörden und um Anerkennung nach. Die Dokumentation wurde auf der Berlinale, mit dem Amnesty International Film Award und dem Publikumspreis ausgezeichnet.
M. P.: Jeder Film ist herausfordernd, dieser war es in besonderem Maße – sowohl thematisch, im Umgang mit Trauma und Retraumatisierung, als auch strukturell bei der Finanzierung. So hat sich etwa der NDR gegen eine Beteiligung entschieden, und bis heute gibt es kein Interesse seitens der öffentlich-rechtlichen Sender. Dabei wäre es eigentlich genau ihre Aufgabe, solche Geschichten sichtbar zu machen. Unser Film berührt die Menschen, das beweisen die Auszeichnungen, die wir für ihn bekommen haben. Trotz dieser Hürden ist es uns gelungen, den Film unabhängig zu realisieren – und dabei mit einem diversen Team zu arbeiten. Besonders wichtig war mir, eine Kameraperson einzubeziehen, die auch Türkisch spricht.
antifa: Im Film kommen nicht nur die Überlebenden und ihre Angehörigen zu Wort, ihr sprecht auch mit dem Bürgermeister von Mölln und dem Archivar, der für die Briefe damals verantwortlich war. Konnten sie eine überzeugende Erklärung dafür geben, warum die Briefe nicht an die Überlebenden des Anschlags übergeben wurden?
M. P.: Nein. Natürlich mögen der damalige Bürgermeister und die Stadt Mölln überfordert gewesen sein, aber nach so vielen rechten Anschlägen ist es einfach nur erschütternd, wie wenig man sich als Gesellschaft solidarisiert. Und dann gibt es ein paar Leute, die das tun, und trotzdem wird nicht dafür gesorgt, dass ihre Briefe ankommen? Aber auch für uns gibt es nicht die eine Antwort. Der institutionelle Rassismus ist offensichtlich, genauso wie die Empathielosigkeit den Überlebenden gegenüber, weil man sich selbst nicht betroffen fühlt. Die Idee hinter dem Film war allerdings nie, die Stadt Mölln und den damaligen Bürgermeister bloßzustellen. Uns war wichtig, den Dialog zu suchen, damit sich das Verhältnis zwischen der Stadt Mölln und den Familien nicht verschlechtert.
antifa: Im Verlauf des Films übergeben die Überlebenden die Briefe an ein anderes Archiv, das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) in Köln. Was kannst du uns über den dadurch entstehenden Kontrast erzählen?
M. P.: Archive sind interessante Orte. Im Archiv in Mölln wurde mir klar, dass Archive natürlich keine machtfreien Orte sind, sondern eine Ordnung schaffen, und nicht unbedingt, um Zugang zu gewährleisten. Die Familien haben sich dazu entschieden, die Briefe an das DOMiD zu übergeben, weil ihnen dort wertschätzend begegnet wird. Der Kontrast zwischen den beiden Archiven liegt in der Frage, wessen Geschichte erzählt wird. Welche ist es wert, öffentlich gemacht zu werden?
antifa: Neben den Perspektiven der Überlebenden, ihrer Angehörigen, der Briefeschreiber*innen von damals und den Aussagen von Bürgermeister sowie Archivar fällt die völlige Abwesenheit der Täter von Mölln auf. Warum hast du dich dazu entschieden?
M. P.: Ich habe keine Sekunde überlegt, irgendeinen Fokus auf die Täter zu legen. Selbst wenn ich daran ein Interesse gehabt hätte, die Familie hätte sich niemals darauf eingelassen. Um ihre Geschichte vollständig zu erzählen, braucht es nicht die Perspektive der Täter. Es geht mir, wenn ich das sage, nicht darum, dass niemand je wieder Filme über Täter*innen machen soll, sondern darum, das Ungleichgewicht zu benennen. Die Überlebenden der Anschläge und ihre Angehörigen sind doch die Menschen, denen unser Mitgefühl zukommen sollte. Es ist Zeit, dass man ihnen überhaupt mal zuhört!
Das Gespräch führte Kristin Caspary.
Kinostart ist am 25. September. Weitere Infos: realfictionfilme.de/die-moellner-brief.html