In einer Falle

geschrieben von Harry Friebel

6. September 2025

Die Holocaustüberlebende Anita Lasker-Wallfisch wurde jüngst 100

Die Holocaustüberlebende Anita Lasker-Wallfisch hat am 17. Juli 2025 ihren 100. Geburtstag gefeiert. Dies soll hier Anlass sein, auf die 2025 in 22. Auflage erschienene Biografie aus dem Jahr 2000 mit Lebenserinnerungen von Anita Lasker-Wallfisch hinzuweisen.

Sie wurde 1925 als Anita Lasker in Breslau in einer jüdischen Familie geboren: »Wir waren eine typische assimilierte Familie.« Die ersten antisemitischen Angriffe erfuhr sie als Achtjährige. »Ich erinnere mich …, dass Kinder mich auf der Straße anspuckten und mich ›dreckiger Jude‹ nannten.« Im April 1942 wurden ihre Eltern durch die Nazis deportiert und ermordet. Anita und ihre Schwester Renate blieben zunächst in Breslau. Bei einem Fluchtversuch (Ziel: Unbesetzte Zone Frankreichs) mit ihrer Schwester wurde sie von der Gestapo verhaftet. Die beiden wurden getrennt und in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert.

Anita über Auschwitz: »Gestank brennender Leichen … Rauch … Hunger … Angst … Verzweiflung«. Es wurde im Lager bekannt, dass sie Cello spielen konnte: So fing ihre »Karriere« als Lagercellistin in der Kapelle von Auschwitz an – das bedeutete Privilegien und größere Freiheit. Die Hauptaufgabe der Kapelle war, »uns jeden Morgen und jeden Abend am Haupteingang aufzustellen und Märsche für die Tausenden von Häftlingen zu spielen«. Aber: »Diese relative Freiheit im KZ war nichts als eine Illusion. Tatsächlich saß man hier unwiderruflich in einer Falle, und der einzige Weg aus der Falle schien durch den Schornstein zu führen.«

Für die Schwestern Anita und Renate kam es im Lager zu einem glücklichen Wiedersehen: »Ein geradezu unglaublicher Zufall«. »Das gab uns einen zusätzlichen Ansporn zum Überleben – eine für die andere.« Ende Oktober 1944 wurden sie in Folge der militärischen Landgewinne der Roten Armee in großer Eile von Auschwitz gen Westen in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Eine Reise im Viehwagen: »Die Reise dauerte vier Tage, wir froren furchtbar. Wir versuchten uns zu wärmen, indem wir den Körper des anderen anhauchten.«

Anita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2000, 256 Seiten, 14 Euro

Anita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2000, 256 Seiten, 14 Euro

Anita Lasker-Wallfisch erinnert die Unterschiede der beiden Lager. »Auschwitz war wohl das größte aller Lager und unübertroffen in seiner Technik des Mordens und der Beseitigung der Leichen … Auschwitz und Birkenau waren Todesfabriken.« Zudem stellt sie heraus: »Für die Zustände« in Bergen-Belsen »gibt es schlechthin kein Vokabular: … keine Kanalisation und kaum Waschgelegenheiten … alle (Häftlinge) lagen auf einem Haufen, auf der nackten Erde in einem vom Sturm gepeitschten Zelt, kalt und elend«. Und: überall lagen Leichen herum: »Da waren zu viele Leichen, und wir waren zu schwach«, um sie wegzutragen.

Am 15. April 1945: die »Befreiung durch die britische Armee«. Anita Lasker berichtete noch im April in einem BBC-Interview: »In Bergen-Belsen gab es keinen Kamin – das heißt, das Elend wurde nicht verbrannt … Hier haben die Leute gehungert, hier war Typhus, hier war Schmutz, Läuse. Keine Hygiene, keine Ambulanz, keine Medikamente. Vierzehn Tage blieben wir ohne Brot.«

Sie emigrierte 1946 nach Großbritannien mit dem Schwur, »nie wieder meine Füße auf deutschen Boden zu setzen«. Sie heiratete den Pianisten Peter Wallfisch und wurde Mitbegründerin des English Chamber Orchestra (ECO). Nach etwa 45 Jahren kam sie wieder nach Deutschland – mit dem ECO: »Meinen Eid habe ich gebrochen … Bereut habe ich es nie … Ich verstand schlagartig, dass ich als Augenzeugin und Überlebende des Holocaust und der monumentalen Verbrechen womöglich einen Beitrag leisten könnte. ›Wiedergutzumachen‹ ist nichts mehr. Aber vielleicht könnte man es in Zukunft ›besser‹ machen und versuchen, mit vereinten Kräften den Abgrund zwischen Opfern und Tätern – und heute deren Nachkommen – zu überbrücken.«

In zahlreichen Interviews wurde Anita Lasker-Wallfisch gefragt, »ob sie nicht vor Angst fast umgekommen seien«. Sie hatte es regelmäßig verneint: »Man kann ständige Angst mit einer Art dumpfen Schmerz vergleichen. Wenn man lange genug damit lebt, gewöhnt man sich letztlich daran.« Und trotz allem Hoffnung? »Hoffnung war ein Elixier. Eine Lebensnotwendigkeit.«

Das Buch von Anita Lasker-Wallfisch ist durchgängig ein starkes Plädoyer gegen »den Anschein relativer Normalität« von Diskriminierung, Hass, Gewalt; eine Aufforderung, das »Schweigen« darüber zu beenden. Dieses Plädoyer verbindet sich mit einer Mahnung von Marian Turski und Roman Kent – beide auch Auschwitz-Überlebende. Sie lautet: »Du sollst nicht gleichgültig sein! Seid nicht gleichgültig, wenn rechtsextremer und antisemitischer Hass durch die Gesellschaft zieht, seid nicht gleichgültig, wenn Minderheiten diskriminiert werden, seid nicht gleichgültig, wenn großmäuliger Populismus die Welt für sich beschlagnahmen will, seid nicht gleichgültig bei Krieg und Gewalt« (Auszug aus dem Redebeitrag von Marian Turski anlässlich des 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar).