Oft übersehene Vielfalt

geschrieben von Nils Becker

6. September 2025

Perspektive Ost: Demokratische Praxis sichtbar machen

Der Druck auf Menschen, die sich im ländlichen Raum politisch engagieren, steigt, so der Kultursoziologe Alexander Leistner von der Uni Leipzig. In vielen Regionen herrsche ein falsches Verständnis von »Neutralität« – welches Engagement eher als störend und nicht als demokratische Pflicht interpretiert. Das Ergebnisse: Eine mundtot gemachte passive Zivilgesellschaft – eine, die sich aus aktiven Diskursen heraushält – lässt ein politisches Vakuum entstehen, in dem die extreme Rechte schnell Raum gewinnen kann.

28 Initiativen vorgestellt

Die unbequemeren Initiativen, die es schaffen, auch unter schwierigen Bedingungen zu existieren, hat das Projekt Perspektive Ost porträtiert. Zwischen Sommer und Herbst 2024 wurden 28 Initiativen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern besucht. Das Ziel war es, die oft übersehene Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements im Osten auszuleuchten. Entstanden sind eine Broschüre, ein 30-minütiger Dokumentarfilm und eine begleitende Veranstaltungstour.

Film und Broschüre lassen sich bestellen über die Projektseite https://perspektiveost.de.

Film und Broschüre lassen sich bestellen über die Projektseite https://perspektiveost.de.

Im Mittelpunkt stehen Orte, die selten im Fokus stehen: Jugendzentren, feministische Räume, Kollektive, Kulturstätten und Landkommunen. Sie eint, dass sie unter schwierigen Bedingungen Räume für demokratisches Handeln schaffen. Die Projektgruppe traf beispielsweise in Halberstadt auf das feministische Zentrum »Zora«, in Schwerin auf das Stadtteilprojekt »Komplex«, in Grimma auf das soziokulturelle Zentrum »Alte Spitzenfabrik«. Dort wird nicht über Demokratie gesprochen, sondern sie wird gelebt – oft improvisiert, immer unter Druck, aber mit großem Engagement.

In einem brandenburgischen Dorf organisierte eine Initiative ein »Demokratie-Planspiel«: Für einen Tag wurde ein leerstehendes Gemeindezentrum in einen Ort der Zukunftsplanung verwandelt. Jugendliche und ältere Bewohner:innen entwarfen dort gemeinsam eine fiktive Zukunft für ihren Ort. Diese Szene, dokumentiert im Film, zeigt exemplarisch, wie gelebte Teilhabe aussehen kann – jenseits parteipolitischer oder institutioneller Formate.

Was Perspektive Ost besonders macht, ist die Konzentration auf Menschen, die selten sprechen dürfen – oder die oft übersehen werden, wenn über »den Osten« gesprochen wird. Das Projekt setzt damit ein Gegengewicht zu dominanten Erzählungen, in denen Ostdeutschland meist als Ort von Rückschritt, Resignation oder rechter Dominanz erscheint. Stattdessen macht es das Potenzial sichtbar, das dort liegt, wo Menschen sich zusammentun, um vor Ort etwas zu verändern – auch gegen große Widerstände.

Film und Broschüre tragen eine eher ruhige, unaufgeregte Handschrift und lassen uns sehr nah an die Akteur:innen heran. Anders als professionell kuratierte Imagekampagnen wie »Wir sind der Osten«, die sich mit etablierten Biografien, hoher Medienpräsenz und institutioneller Rückendeckung der medialen Unterrepräsentation von ostdeutschen Lebenswelten widmen, bewegt sich Perspektive Ost in einer anderen Realität. Die porträtierten Initiativen sind oft prekär finanziert, basisnah organisiert und arbeiten in Regionen, in denen demokratisches Engagement nicht selten angefeindet oder isoliert ist. Wer hier handelt, tut dies nicht aus PR-Gründen, sondern aus Notwendigkeit.

Verantwortung füreinander übernehmen

Die Stärke von Perspektive Ost liegt in der dokumentarischen Genauigkeit und politischen Ausrichtung. Es zeigt, was im Schatten von Strukturschwäche, Entwertungserfahrungen und Abwanderung dennoch gelingt – und manchmal sogar wächst. Zugleich verweist das Projekt auf ein strukturelles Problem: Viele dieser Initiativen tragen demokratische Infrastruktur in Regionen, wo sonst kaum noch etwas existiert. Doch sie werden nicht als solche anerkannt – weder politisch noch institutionell. Die Broschüre und der Film fordern deshalb indirekt ein Umdenken: Demokratie entsteht nicht nur in Wahlkabinen oder Debatten, sondern vor Ort: in Werkstätten, Jugendclubs, Gärten, Veranstaltungsräumen. Dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, entsteht gesellschaftlicher Zusammenhalt.

Wer heute fragt, wie demokratische Zukunft in Ostdeutschland aussehen kann, findet hier keine schnellen Antworten, aber viele ehrliche Bemühungen. Das ist solide demokratiepolitische Bildungsarbeit – in Bildern, Texten und Diskussionen. Das Warnpotential wird nicht aus bloßer Kritik generiert, sondern aus der praktischen Frage: Wie kann demokratische Praxis stärker institutionalisiert, besser finanziert und dauerhaft wirksam werden?

Film und Broschüre lassen sich bestellen über die Projektseite https://perspektiveost.de.