Politischer Überlebensinstinkt

geschrieben von Erika Weisser

6. September 2025

Die Geschichte der schwäbisch-jüdischen Familie Moos in einer Autobiografie

Der Freiburger Rechtsanwalt Michael Moos, Mitglied der VVN-BdA und 17 Jahre lang Stadtrat der Linken Liste, hat in seiner nun veröffentlichten Autobiografie mehr als die Geschichte seiner schwäbisch-jüdischen Familie festgehalten. Zwar thematisiert er die mühsame Emanzipation der oberschwäbischen Landjuden, ihr langes Bemühen um Integration in die städtischen Gesellschaften – und ihr vernichtendes Ende. Doch über die analytische Beschreibung der Leidenswege seiner Ulmer Elternfamilien gelingt ihm zugleich eine ebenso exakte wie bedrückende Darstellung des Faschismus an der Macht. Zudem beleuchtet er die Wirkung transgenerationaler Traumata – aber auch die Bedeutung politischen Engagements.

»Sein politischer Instinkt half ihm zu überleben«, schreibt er etwa über seinen Vater: Im April 1933, nach Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, beschloss der damals 20-jährige Alfred Moos »schweren Herzens«, sein Jurastudium in Berlin nach vier Semestern aufzugeben und das Land zu verlassen. Aus nächster Nähe hatte er den bedrohlichen Fackelzug zur Feier der Machtübertragung an die NSDAP erlebt und erfahren, wie schnell und fast reibungslos die Demokratie abgeschafft und das Land in eine faschistische Diktatur gesteuert wurde. Angesichts der nach dem Reichstagsbrand einsetzenden Repressalien gegen politisch Widerständige fürchtete er, als Mitglied der KPD-nahen »Roten Studentengruppe« selbst verfolgt zu werden.

Michael Moos: Und nichts mehr wurde, wie es war … Die Geschichte der schwäbisch-jüdischen Familie Moos und mein Leben in Tel Aviv, Ulm und Freiburg. Schriftenreihe des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg Ulm (DZOK), Band 9, Klemm+Oelschläger, Ulm 2025, 164 Seiten, 19,80 Euro

Michael Moos: Und nichts mehr wurde, wie es war … Die Geschichte der schwäbisch-jüdischen Familie Moos und mein Leben in Tel Aviv, Ulm und Freiburg. Schriftenreihe des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg Ulm (DZOK), Band 9, Klemm+Oelschläger, Ulm 2025, 164 Seiten, 19,80 Euro

Jahre später erfuhr er, wie recht er hatte: Kurz nach seiner Abreise habe die Gestapo nach ihm gesucht, erzählte sein früherer Vermieter bei einer zufälligen Begegnung in Tel Aviv. Dorthin war Alfred Moos 1936 nach einer kaufmännischen Ausbildung in London mit seiner Frau Erna Adler emigriert. Ihre Eltern kamen auch nach Palästina; sein Vater, Hugo Moos, wollte Deutschland nicht verlassen. Er starb 1942 in Theresienstadt. Viele weitere Angehörige wurden ermordet, nur wenigen gelang die Flucht. So waren, als das Ehepaar 1953 mit dem sechsjährigen Michael und seiner »immer sehr ernsten Oma Frieda« von Tel Aviv nach Ulm zurückkehrte, keine Verwandten mehr da.

Anders als seine Mitschüler hatte er weder weitere Großeltern noch Tanten, Onkel, Cousinen oder Cousins. Und er spürte, dass er besser nicht nach dem Grund fragen sollte: In der Familie wurde über den Antisemitismus und die daraus resultierende tödliche Verfolgung nicht gesprochen. Auch nicht über die damit zusammenhängende psychische Erkrankung seiner Mutter.

Wie er heute weiß, hatte sie große Angst vor der Rückkehr ins Land der Täter. Doch der Vater, der ab 1942 in einer Firma gearbeitet hatte, die Benzinkanister für die Rote Armee produzierte, wollte sich als Antifaschist aktiv am Aufbau eines sozialistischen Deutschland beteiligen. Er wurde freilich enttäuscht – nicht nur von der SPD, die er lange als politische Heimat sah, aber nach dem Nato-Doppelbeschluss 1979 verließ. Bis zu seinem Lebensende engagierte er sich in der VVN-BdA und der KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg Ulm.

Ein wichtiges Buch. Auch wenn das Beschriebene oft kaum zu ertragen ist.

Lesungen:

– 11. September, 19 Uhr: SWR-Studio, Freiburg

– 21. September, 18 Uhr: Blaues Haus, Breisach

– 24. Oktober, 20 Uhr: Haus 37, Freiburg-Vauban

– 29. Oktober, 19 Uhr: Gedenkort Hotel Silber, Stuttgart

– 2. November, 19 Uhr: Haus der Begegnung, Leonberg