Steinzeit-Communties

geschrieben von Sophia Hirsch

6. September 2025

Sachbuchcomic stellt Vorstellungen von prähistorischen Geschlechterrollen infrage

Der Titel des Buches und die große rote Muschi auf dem Cover sind eingängig, aber irreführend. »Die Frau als Mensch« rezipiert zwar wichtige Forschungsergebnisse der feministischen Archäologie, doch es geht um viel mehr: Eine Revision unseres Blicks auf die Frühgeschichte. Damit hinterfragt das Comic zahlreiche Grundannahmen darüber, wie menschliches Zusammenleben angeblich »schon immer« funktioniert hat und folglich auch ewig bleiben wird.

Feministische und progressive Debatten

Ulli Lust bietet einen anschaulichen Einblick in feministische und progressive Debatten in Archäologie, Anthropologie und Kunstgeschichte. Anhand von Kunstwerken aus steinzeitlichen Ausgrabungsstätten schildert sie Lebensweise und Kultur der Frühzeitmenschen.

Vor 50.000 Jahren begannen Menschen erst, figürlich Darstellungen zu erschaffen, zum überwiegenden Teil handelt es sich dabei um Darstellungen von weiblichen Körpern. Die meist dreidimensionalen Objekte, die im Buch vorgestellt werden, verwiesen auf die zentrale Rolle, die Frauen in diesen Gesellschaften einnahmen.

Das Buch räumt mit vielen überkommenen Vorstellungen auf. So zum Beispiel der, dass in der Steinzeit allein Männer jagten, Werkzeuge und Kunstwerke schufen. Außerdem erklärt Ulli Lust anhand verschiedener Anekdoten über Steinzeit Teenager, die ihre erste Blutung erleben, dass die Tabuisierung der Menstruation ein Phänomen der Neuzeit ist. Sie illustriert die Vorzüge gemeinschaftlicher Kindererziehung, die in Steinzeit-Communities zum Alltag gehörte und ihr Überleben garantierte. Vor allem aber zeigt das Comic, dass Kooperation und gegenseitige Hilfe, das Leben der Frühzeit bestimmten. Angesichts der harten Lebensbedingungen boten diese Prinzipien deutliche bessere Überlebenschancen als der Kampf aller gegen alle, der gemeinhin als Realität der Frühzeit angenommen wird.

Bedeutung körperlicher Behinderung

Ulli Lust: Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte. Reprodukt, Berlin 2025, 256 Seiten, 29,90 Euro. Wir danken dem Reprodukt-Verlag für die Genehmigung zum Abdruck der oberen Zeichnungen.

Ulli Lust: Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte. Reprodukt, Berlin 2025, 256 Seiten, 29,90 Euro. 

Die Bedeutung körperlicher Behinderung in der Steinzeit, die Ulli Lust an mehreren Beispielen zeigt, ist faszinierend. In unserer ableistischen Gesellschaft erscheint es paradox, gerade Menschen mit körperlichen Einschränkungen mit besonderen Gräbern zu ehren, während der Großteil der Frühzeitmenschen nicht explizit bestattet wurde. So erreichten Menschen, die nicht selbständig gehen oder kauen konnten, nicht nur ein relativ hohes Alter (was belegt, dass sie ständige Hilfe von ihren Mitmenschen erhielten). Sie wurden sogar als besonders begabt oder auserwählt angesehen und nahmen oft zentrale Funktionen in der Gemeinschaft ein, was sich an der prachtvollen und aufwendigen Art ihrer Bestattung ablesen lässt.

Wer die populärwissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahre zu diesem Thema oberflächlich verfolgt hat, wird viele bekannte Thesen wiederfinden. Dennoch ist diese Buch verdienstvoll und wichtig, denn nicht nur ich, sondern auch viele jüngere Menschen kennen aus der Schule und den Medien und Museen lediglich ein ideologisch überformtes Bild der Steinzeit. Die Projektion der aktuellen, hier-archischen und gewaltförmigen Verhältnisse in die Vorzeit zementiert die Vorstellung, diese seien natürlich und alternativlos. Völlig zu Recht wurde das Buch vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels im Juni mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet.