Das innere Imperium

geschrieben von Thomas Hacker

9. November 2025

Verstehen, wie Russland tickt

Im Kontext des russischen Annexionskriegs gegen die Ukraine ist in diesem Jahr ein bemerkenswertes Buch erschienen. Der Autor Marcus Keupp forscht und lehrt als Militärökonom an der Militärakademie der ETH Zürich. Vielen ist er aus diversen TV-Interviews bekannt, in denen er mehrfach die strategische Niederlage Russlands prognostizierte – also das Verfehlen zentraler Kriegsziele. Eine Niederlage im militärischen Sinne ist bisher nicht eingetreten. Dennoch ist Häme unangebracht; denn seine Analysen sind stets sehr aufschlussreich. Auch die besten Analytiker irren bei konkreten historischen Prognosen, seriöse Wissenschaftler gestehen Fehleinschätzungen ein und korrigieren sich entsprechend.

Insbesondere der erste Abschnitt »Imperium« ist beeindruckend. Kurz und prägnant fasst der Autor die Geschichte des bis heute wirksamen imperialen Denkens in Russland kenntnisreich zusammen, und zwar ohne jede alarmistische Sprache. Die Darstellung enthält viel historisches Hintergrundwissen und verliert sich dennoch nicht im Detail. Sie ist gut lesbar und überzeugend. Keupp zeigt auf, wie imperiale Ideologie und Praxis zusammenwirken. Er zeigt, dass das Imperium kein rein außenpolitisches Projekt ist, sondern tief verwurzelt ist in inneren Strukturen: in einer staatlich-oligarchischen Produktionsweise, in Elitenetzwerken, in militaristischer Ökonomie.

Marcus M. Keupp: Spurwechsel – Die neue Weltordnung nach Russlands Krieg. QuadrigaVerlag, Köln 2025, 304 Seiten,
25 Euro

Marcus M. Keupp: Spurwechsel – Die neue Weltordnung nach Russlands Krieg. Quadriga
Verlag, Köln 2025, 304 Seiten,
25 Euro

Auch wenn der Autor die Bedrohung durch Russlands Ambitionen klar benennt, bedient er dabei keineswegs russophobe Narrative. Er diskutiert auch die Verantwortung des Westens, historisches Machtstreben, wirtschaftliche Verflechtungen und strategische Fehler. Er warnt generell vor nationalistischem, autoritärem Kollektivismus als Gegenentwurf zum liberalen Individualismus (auf dessen Seite er klar steht) und zur pluralistischen Gesellschaft. Aus antifaschistischer Sicht ist diese Warnung zentral.

»Spurwechsel« ist ein beeindruckendes Sachbuch. Der Autor legt überzeugend dar, wie im heutigen Russ-land alte Machtansprüche mit neuen Mitteln verfolgt werden, wie alte Ideologien wieder Oberwasser bekommen, wohl auch in der Mehrheitsgesellschaft. Das Buch ist allen zu empfehlen, die verstehen möchten, wie Russland heute tickt, die gern auf die Vorgeschichte des Krieges verweisen, ohne sich mit seinen innenpolitischen Ursachen zu befassen. Auch Russland hat eine Geschichte – nicht nur »der Westen«, die NATO und die Ukraine.