Kanzler des Grauens

geschrieben von Cornelia Kerth

9. November 2025

Wie die Angriffe auf den Sozialstaat hinter Rassismus verschwinden

Eine kurze Recherche über die Vita des Bundeskanzlers hält folgende Informationen bereit: Nach Abi, Wehrdienst und Jurastudium hat Friedrich Merz drei Jahre als Syndikus beim Verband der Chemischen Industrie gearbeitet. Dann wurde er 1989 Politiker. Als Mitarbeiter der Rechtsanwaltskanzlei Mayer Brown und gleichzeitiger Bundestagsabgeordneter vertrat er 2006 die Interessen der RAG Aktiengesellschaft (einst Ruhrkohle AG) beim Börsengang. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2009 konnte er seinem Vermögen 1.980.000 Euro hinzufügen, die er als Honorar für seine Dienste zur Privatisierung der WestLB bezogen hat. Selbstverständlich war Merz 2005 Gründungsmitglied und bis zur Auflösung 2014 Mitglied des Fördervereins der Lobbyorganisation »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«.

Wenn der Dax ins Kanzleramt zieht

Neben allerlei anderen Aufsichtsratspositionen hatte er bis 2020 den Aufsichtsratsvorsitz der BlackRock Asset Management Deutschland inne. »Blackrock ist mit Anteilen zwischen einem Prozent und neun Prozent an allen bisherigen 40 Dax-Unternehmen beteiligt, bei sieben davon als größter Anteilseigner. Es ist außerdem der größte Einzelaktionär an der Deutschen Börse. (…) BlackRock macht im Rahmen des Stimmrechtsmandates auf Hauptversammlungen und bei Treffen mit der Geschäftsleitung seinen Einfluss geltend« (Wikipedia). Friedrich Merz war und ist also ein zentraler Vertreter des deutschen Kapitals in der Politik. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass er seine Kanzlerschaft ganz in dessen Dienst stellt. Koste es, was es wolle.

Wesentliches Ziel seiner Politik ist offensichtlich die weitere Reduzierung der Lohnquote am BIP zugunsten der Profite. Wie schon bei »Hartz IV« stehen die Ärmsten und Schwächsten im Fokus der Debatte. Gemeint sind aber – wie schon bei »Hartz IV« – alle, die sich z. B. weigern könnten, für den Mindestlohn zu arbeiten, der sie als Renter:innen direkt in die Grundsicherung führt. Daran wird auch die Erhöhung auf 14,60 Euro ab 2027 nichts ändern. In die gleiche Richtung gehen die Debatten über die angebliche Notwendigkeit, »wieder mehr zu arbeiten«, und die ständig steigenden Kosten von Rentensystem und Gesundheitswesen durch »mehr Eigenverantwortung« ausschließlich auf die Schultern der Beschäftigten zu verlagern. Wenn der Zugang gesetzlich Versicherter zu hochwertiger Versorgung von eigener Zahlungsfähigkeit abhängt, ist ein Übergang vom Zwei- zum Mehrklassensystem im Gesundheitswesen absehbar

Da es der AfD offensichtlich gelingt, ihre klare Orientierung auf Abbau des Sozialstaats, des Arbeitsschutzes und der Rechte von Beschäftigten hinter der Hetze gegen alle und alles, was die deutsche Rechte schon immer als »undeutsch« stigmatisiert hat, in der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden zu lassen, scheint es für den Kanzler nahezuliegen, auf diesen Zug aufzuspringen. Vermutlich verspricht er sich davon, Wähler:innen von der AfD (zurück-)gewinnen zu können. Dass die aber offensichtlich das Original mit Umsturzfantasien bevorzugen, ist an dem Mann ebenso offensichtlich vorbeigegangen.

Von Merz selbst angerissene »Brandmauer«

Offiziell gibt Merz den Verteidiger der längst von ihm selbst angerissenen »Brandmauer«. Dass er indessen kein Problem damit hat, Forderungen der AfD zu teilen und mit deren Stimmen durchzusetzen, hat er am 29. Januar bewiesen. Da ging es um das gemeinsame Lieblingsthema, die Migration als »Mutter aller Probleme«, wie es einst Seehofer auf den rechten Punkt gebracht hatte.

Tatsächlich ist Merz’ »Stadtbild«-Spruch keine Entgleisung, sondern die populistische Begleitmusik zu Alexander Dobrindts »Abschiebeoffensive«. 20 Jahre führte die Bundeswehr Krieg gegen die Taliban. Nun werden diese diplomatisch aufgewertet, um publikumswirksame Abschiebungen nach Afghanistan möglich zu machen. Dass die damit Zugang auf die Daten aller in Deutschland lebenden afghanischen Staatsbürger:innen haben: kaum eine Randnotiz. Auch nach Syrien wird massiv abgeschoben. Und in allen Abschiebefliegern, deren Abheben als Triumph vermeldet wird, sitzen selbstverständlich nicht nur verurteilte Straftäter. Die aktuellen Pläne zur Erleichterung der Abschiebehaft werden aus der ARD-Rechtsredaktion kommentiert: »Menschen in Abschiebungshaft mögen kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, sie sind dennoch Menschen mit Rechten (…). Die Politik von Merz, Dobrindt und Co. greift diese Selbstverständlichkeiten an. Der Rechtsstaat wird so mit abgeschoben.«

Mit den »Problemen im Stadtbild« ist Merz ganz nah dran am AfD-Hit »Remigration«, der weit über die Abwehr von Menschen auf der Flucht hinausgeht. Zugleich sorgt er damit aber dafür, dass hinter der Aufregung darüber Debatten, ob »wir« uns den Sozialstaat noch »leisten« können, verblassen. Und genau das darf nicht passieren. Zu den Prinzipien, die das Grundgesetz zum antifaschistischen Gegenentwurf zum faschistischen Staat machen, gehören sie alle − die Würde des Menschen, die Menschenrechte, und hier konkret: die Rechte von Geflüchteten genauso wie der Sozialstaat. Beide sind in Gefahr, und beide gehören zu den Errungenschaften, die wir verteidigen müssen.