Vernachlässigt

geschrieben von Bernd Hüttner

9. November 2025

Studie zu Erinnerung in der DDR an die Shoah

Alexander Walthers voluminöses Buch untersucht den Umgang mit der Erinnerung an die Shoah in der DDR. Das Wort »Shoah« wurde dort nicht verwendet. Walther, ein 1989 geborener wissenschaftlicher Mitarbeiter der Unis Erfurt und Jena, fragt, ob und wie Überlebende ihre Verfolgungserfahrungen als Juden und Jüdinnen sowie ihre bewusst antifaschistischen Überzeugungen vereinbaren und unter den Bedingungen des Staatssozialismus thematisieren konnten. Welche Rolle spielten jüdische Überlebende in der DDR also in der »kulturellen Auseinandersetzung« mit der Shoah und dem NS beziehungsweise, welchen Platz konnten sie einnehmen?

Methodisch geschieht die Bearbeitung dieser Fragen, indem Walther etliche von ihm als relevant erachtete Personen herausgreift und näher beschreibt. Er liefert keine Biographien von ihnen, sondern schildert ihre Erfahrungen, Erlebnisse und ihre oftmals von Eigensinn geprägten Handlungen in der DDR. Ausgehend von Nachlässen und Ego-Dokumenten (Tagebücher etc.) zeichnet er die Handlungsoptionen und Motivationen vor allem jüdischer vereinzelt auch nicht-jüdischer AkteurInnen nach.

Die Arbeit beginnt mit der Schilderung von Aktivitäten Überlebender und Verfolgter direkt nach Kriegsende, also auch in den Jahren vor der offiziellen Gründung der DDR 1949: (Massen-)Gräber wurden gesucht und identifiziert, Gebeine umgebettet, Beschilderungen, Gedenksteine und Mahnmale angebracht, erste Gedenkfeiern veranstaltet und jüdische Friedhöfe »wiederentdeckt«. Walther streift auch die Fragen der Anerkennung von »Opfern des Faschismus«, die damit verbundenen Fragen von Entschädigung und somit auch die Rolle und das Agieren der in der DDR 1953 aufgelösten VVN.

Damit verbunden, und das zieht sich durch alle Aspekte und Personen der Studie, sind umstrittene inhaltliche und strategisch-politische Fragen und der Umgang mit diesen. Das staatlich forcierte Verständnis von Antifaschismus ließ nur sehr wenig Spielräume für abweichende Narrative. Allein die Frage, ob der NS nicht auch eine Massenbasis hatte, und wer damit dessen sozialer Träger war, war verpönt. War der Antisemitismus nun grundlegend für den deutschen Faschismus oder nur eine von den Kapitalisten erfundene Strategie, um die Massen in die Irre zu führen? Viele der hier in verdienstvoller Weise untersuchten Einzelpersonen bezogen zaghaft und oft verklausuliert Position, machten die Perspektive der von antisemitischer Verfolgung Betroffenen stark und fragten auch nach individueller Schuld.

Alexander Walther: Die Shoah und die DDR. Akteure und Aushandlungen im Antifaschismus. Band 7 der Reihe Buchenwald und Mittelbau-Dora – Forschungen und Reflexionen. Wallstein Verlag, Göttingen 2025, 566 Seiten, 44 Euro

Alexander Walther: Die Shoah und die DDR. Akteure und Aushandlungen im Antifaschismus. Band 7 der Reihe Buchenwald und Mittelbau-Dora – Forschungen und Reflexionen. Wallstein Verlag, Göttingen 2025, 566 Seiten, 44 Euro

Der zweite Teil schildert das Agieren einiger DDR-Verlage und mehrerer dort, in der Regel als Lektoren, tätiger Personen. Danach untersucht Walther das Wirken des 1937 nach Palästina emigrierten und 1946 in die SBZ zurückgekehrten Schriftstellers Arnold Zweig, das der Sängerin Lin Jaldati und das des heute weithin unbekannten Historikers Helmut Eschwege. Während Jaldati in der DDR eine relativ bekannte Interpretin jiddischer Lieder war, versuchte Eschwege mehr oder minder erfolglos, die Shoah und sogar den jüdischen Widerstand in Publikationen zu thematisieren. Eschwege konnte in Dresden auf lokaler Ebene wirken, war jahrzehntelang aktiv und in ein größeres »Netzwerk« einbezogen. Die erste wissenschaftliche Monographie zur Shoah erschien in der DDR aber erst 1973.

Teil drei nimmt die 1980er Jahre stärker in den Blick und damit einige jüngere Personen. Der Journalist Heinz Knobloch erkundete als selbsternannter »Stadtflaneur« die vergessene jüdische Geschichte Berlins und holte diese wieder, indem er darüber schrieb, ins gegenwärtige Bewusstsein. 1979 erschien sein Buch »Herr Moses in Berlin«, das ihn bekannt machte. Erst 1988 findet aus Anlass des 50. Jahrestages des Novemberpogroms die erste Ausstellung in der DDR zur langen Geschichte des Judentums in Deutschland statt. Im selben Jahr wurde die »Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum« mit dem Ziel gegründet, die seit Kriegsende zerstörte Neue Synagoge wiederaufzubauen und damit ein Zentrum für die Pflege und Bewahrung jüdischer Kultur in Ostberlin zu schaffen.

Geschichte war in der DDR ein streng reguliertes und vermachtetes Feld. Walther kann exemplarisch zeigen, wie grundsätzlich von »stiller Loyalität« (S. 468) gegenüber dem antifaschistischen Staat und letztlich doch Zurückhaltung geprägte AkteurInnen es vermochten, am Rande und in Nischen erinnerungskulturelle Akzente zu setzen.

Die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen war in der DDR aber jahrzehntelang öffentlich ein politisch vernachlässigtes und gesellschaftlich unerwünschtes Thema. Die Shoah spielte in der von Staat und Partei forcierten Geschichtspolitik »eine untergeordnete Rolle« (S. 463). Walther hat mit seiner Publikation Neues zutage gefördert und zusammengeführt. Jüdisches Leben changierte in der DDR oft zwischen Vermächtnis, Auftrag und Eigensinn. Der Historiker Walther hat mit seiner Publikation der Forschung dazu einen weiteren wichtigen und gewichtigen Baustein hinzugefügt.