Gehetzte Einblicke
24. Januar 2021
Ansichten zur deutschen Oscar-Hoffnung
Die Regisseurin Julia von Heinz verarbeitet in dem Drana »Und morgen die ganze Welt« ihre Jugenderlebnisse in Antifagruppen der 90er Jahre. Das Geschehen wird in die Gegenwart verlegt. Eine rechtspopulistische Partei spielt eine große Rolle; militante Neonazis, die mit Sprengstoff hantieren; der Verfassungsschutz, der daran beteiligt ist und die Polizei, die Protest dagegen klein hält. Sie ist es auch, die den Widerstand kriminalisiert und faktisch dazu auffordert, den Kampf gegen den Faschismus selbst in die Hand zu nehmen.
Im Mittelpunkt der Story steht eine junge Frau, die zum Studieren nach Mannheim kommt und dort in eine Kommune zieht. Sie macht bei antifaschistischen Protesten mit und kommt schnell auf die Idee, dass es dabei nicht bleiben kann. Im Folgenden geht es um Antifarecherche, um körperliche Auseinandersetzungen und um das Hadern damit, die eigene gutbürgerliche Sozialisation in Frage zu stellen. Die Hauptdarstellerin
Mala Emde stellt den Radikalisierungs- und Selbstfindungsprozess authentisch dar. Schade, dass der Film nur drei Tage zu sehen war. Danach wurden alle Kinos wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Eine Gruppe aktiver Antifaschist*innen hat sich den Film gemeinsam angeschaut und diskutiert. Ein paar Ansichten:
Marie (24): Der Film ist keine gute Werbung für die antifaschistische Bewegung, die zunehmend auch feministische Themen aufgreift und selbst anti-patriarchal organisiert ist. Frauen werden in dem Film vor allen in der Sorgearbeit gezeigt. Sie schmeißen das Hausprojekt, kochen, kümmern sich um Anwältinnen und um die seelische Stabilität aller. Schließlich halten sie noch den Kopf hin, wenn bei der Macker-Militanz gegen Neonazis etwas schief gegangen ist. Dass bei den Kloppereien auch ein paar Frauen in sportlichen Outfits und schnittigen Kurzhaarfrisuren dabei sind, macht es nicht besser. Das größte Problem ist die Hauptdarstellerin. Sie hat ausschließlich männliche Identifikationsfiguren, zu denen sie aufschaut und die sie prägen. Dabei war es ihre beste Freundin, die dafür gesorgt hat, dass sie überhaupt erst einziehen kann und die für sie bürgt.
Markus (39): Schön, dass auch mal der militante Teil von Antifaarbeit dargestellt wird, der sonst nur als Gerücht größeren Kreisen bekannt wird. Allerdings wird im Film so getan, als ob Antifa aus feiern, verdeckter Informationsbeschaffung und gut geplanten, aber mies durchgeführten Hit&Run-Actions besteht. Der Kern politischer Organisierung und die Bedingungen dafür bleiben ausgespart. Uns werden Einzelkämpfer*innen und deren persönliche Probleme präsentiert. Was wir nicht sehen, ist, wie gemeinsam Analysen, Strategien und Ziele entwickelt und die dafür nötigen Ressourcen, Fertigkeiten und der theoretische Hintergrund aufgebaut werden. Das ist es doch, womit wir uns überwiegend beschäftigen. In dem Film sind es ein paar wenige, die ihre Show abziehen. Weder gibt es verbindliche Gruppenstrukturen, noch wird auf Bündnisarbeit eingegangen. Unsere Realität sieht total anders aus.
Rejane (28): Vieles, was mir in der Außendarstellung der autonomen Antifa wichtig wäre, wird in dem Film nur sehr kurz angeschnitten. Damit verstehen nur noch Leute, die es selbst erlebt haben, worauf die Regisseurin hinaus will. Ein paar Dialoge zu der gezeigten Polizeigewalt, den Festnahmen, der Hausdurchsuchung, zum §129-Verfahren und den eigentlichen Zielen von antifaschistischer Notwehr hätten schon gereicht. Damit wäre besser einzuordnen, was die Einzelnen politisiert hat und dabei bleiben lässt. Der kollektive Umgang mit staatlicher Repression, die Angst vor Nazis und das dringende Bedürfnis, sich gegen all das zu wehren und selbst wirksam zu werden, hat keinen Platz. Politische Gewalt wird als exzentrische Kontrolllosigkeit inszeniert, statt als eine Praxis (neben vielen anderen), um die Gewalt von rechts einzudämmen. Riesenthemen wie sexualisierte Gewalt, Kritik(un)fähigkeit in der Bewegung, Bündnisfähigkeit und der Aufbau von Alternativen zur ausbeuterischen Normalität blitzen kurz auf und versacken leider in der Gehetztheit eines Actionfilms.
Lee (32): Aber was habt ihr erwartet? Ein Spielfilm kann das nicht alles abdecken. Er muss Schlaglichter liefern, die grell genug sind, um hängen zu bleiben. Der Film ist dennoch zu empfehlen, weil er durch kurze Einblicke einen bestimmten Teil der antifaschistischen Bewegung einem breiten Publikum zugänglich macht.
Zugehört und zusammengestellt von Nils Becker
»Und morgen die ganze Welt«, Regie: Julia von Heinz, D/FR 2020, 111min., seit November im Kino.