150 Jahre Reichsgründung
30. Januar 2021
antifa-Spezial von Ulrich Schneider
Im Januar 1871 wurde als einer der letzten europäischen Nationalstaaten das Deutsche Reich gegründet. Es enthielt in seiner Grundstruktur und seiner ideologischen Verfasstheit bereits jene Elemente, die den Weg in den deutschen Faschismus ebneten. Daher ist es für Antifaschisten heute von Bedeutung, sich mit diesem 150 Jahre zurückliegenden Ereignis zu beschäftigen.
Die Idee eines deutschen Nationalstaates war ursprünglich eine progressive, die gegen die reaktionäre Fürstenherrschaft und Kleinstaaterei im Deutschen Bund gerichtet war. Die bürgerliche Revolution von 1848/49 hatte nicht nur Forderungen nach einer Verfassung und Freiheitsrechten formuliert, sondern auch die Losung eines Deutschen Reiches. Die Paulskirchen-Versammlung sprach sich dann für eine »kleindeutsche« Lösung aus, da Österreich nicht an dieser Entwicklung teilhaben konnte.
Die Niederschlagung der 1848er-Revolution durch das preußische Militär und die gebündelte Kraft der alten feudalen Herrscher führten in den deutschen Ländern zu einer Phase der Reaktion, in der alle demokratischen Bestrebungen und Kräfte polizeilich verfolgt wurden.
Aber schließlich waren es nicht nur die Bestrebungen von Menschen, sondern auch objektive Entwicklungen im Bereich der Industrialisierung, die die Entwicklung zu einem Nationalstaat forcierten.
Der ökonomische, technische und soziale Wandel beschleunigte sich in einem bis dahin ungekannten Maße. Sichtbarster Ausdruck davon waren der Ausbau von Eisenbahnlinien und die elektrische Telegraphie. Damit erhöhten sich entscheidend die Mobilität und Kommunikation zwischen den Menschen. Die Grenzen zwischen den selbstständigen Fürstentümern erwiesen sich zunehmend als störend in diesem Prozess. Zwar hatten viele Staaten bereits seit 1834 den preußisch-dominierten Zollverein geschlossen, der den Handel erleichtern und damit einen Binnenmarkt schaffen sollte. Aber diese Situation bremste die Entwicklungspotentiale der Produktivkräfte in Deutschland, die sich in zahlreichen Erfindungen und Innovationen, in Gründungen von Unternehmen und neuen Formen der Produktionsorganisation zeigten. Nicht umsonst nennt die Wirtschaftsgeschichte diese Jahre den »Durchbruch der Industrialisierung« in Deutschland.
Der Weg zur »Reichsgründung von oben«
Die Veränderungen in den wirtschaftlichen Verhältnissen zwangen auch die Politik dazu, eine nationalstaatliche Lösung voranzutreiben, wobei sich die Herrschenden diese nur als preußisch-dominierten Weg vorstellten. Dabei verfolgte Otto von Bismarck, preußischer Ministerpräsident und Außenminister, das Ziel einer »klein-deutschen Einigung« unter preußischer Führung. Notfalls wollte er diese »mit Blut und Eisen« durchsetzen.
Nachdem Preußen noch 1864 gemeinsam mit Österreich Dänemark den Krieg erklärt hatte, weil der dänische König plante, Schleswig in das dänische Reich einzugliedern, richtete sich die militärische Aggression Preußens 1866 gegen Österreich, den Konkurrenten um den geopolitischen Einfluss. Nach dem Sieg über Österreich wurde Preußen die alleinige Führungsmacht in Deutschland. Der Deutsche Bund wurde aufgelöst, verschiedene Fürstentümer, wie zum Beispiel Hessen-Kassel, dem preußischen Königreich angeschlossen und mit den verbliebenen selbstständigen Feudalstaaten der Norddeutsche Bund gegründet.
Gleichzeitig schloss Bismarck mit den süddeutschen Staaten Bündnisse gegen den »Erzfeind Frankreich«. Er sah in einem Krieg mit Frankreich nicht nur die Möglichkeit, dessen politischen Hegemonialanspruch zu begrenzen, sondern auch die deutsche Einigung voranzutreiben.
Nach einer gezielten Provokation im Zusammenhang mit Streitigkeiten um die Thronfolge in Spanien (»Emser Depesche«) erklärte am 9. Juli 1870 Frankreich Preußen den Krieg. Verbunden war damit die Erwartung, zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Preußen in der Gestalt des Norddeutschen Bundes nutzte diese Kriegserklärung, um erstens die süddeutschen Staaten an ihre Bündnisverpflichtung zu erinnern und zweitens durch den Vorstoß auf französisches Gebiet eine militärische Lösung zu erzwingen. Symbolisch für den Krieg waren die Schlacht von Sedan mit der Kapitulation am 2. September und die Schließung des Belagerungsrings um Paris Mitte September 1870. Zwar wurde der Waffenstillstand erst Ende Januar 1871 vereinbart, den Krieg gegen Preußen hatte Frankreich aber schon früher militärisch verloren.
Bismarck erkannte die Gelegenheit, im Ergebnis der Niederlage des »Erzfeindes« einen unter preußischer Führung stehenden deutschen Nationalstaat zu schaffen. In Verhandlungen mit den Staaten des Süddeutschen Bundes schaffte er durch Zugeständnisse und Druck eine Verfassungslösung, die keinen »Bund«, sondern ein einheitliches »Reich« zum Ergebnis hatte. Am 10. Dezember 1870 stimmte der Reichstag, der damals noch die Versammlung der Fürstentümer war, Bismarcks Vorschlägen für eine neue Verfassung zu. Festgeschrieben waren darin der Titel »Kaiser« für den Herrscher und »Deutsches Reich« als Staatsnamen. Diese Verfassung trat formal am 1. Januar 1871 in Kraft.
Symbolisch bekräftigt wurde die Reichsgründung am 18. Januar 1871 durch die Ausrufung Wilhelms I., des Königs von Preußen, zum deutschen Kaiser. Dass diese Zeremonie im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles nahe Paris durchgeführt wurde, war ein absoluter Affront gegen das französische Selbstbild. In den Folgejahren erinnerten immer wieder nationalistische Kreise in Frankreich an diese Provokation.
Als Vorbote der revolutionären Alternative zur reaktionären Formierung des deutschen Nationalstaates entstand im weiterhin belagerten Paris vom 18. März bis zum 28. Mai 1871 eine sozialistische Stadtregierung, die »Commune de Paris«, das historische Vorbild für zukünftige Räterepubliken.
Die Kommunarden beschlossen soziale, politische und wirtschaftliche Maßnahmen, die die Lebensbedingungen der Bürger verbessern sollten. Dazu gehörten ein Dekret über den Erlass von fälligen Mieten, der Erlass über die Rückgabe von verpfändeten Gegenständen, zum Beispiel Kleidungsstücken, Möbeln, Wäsche, Büchern, Bettzeug und Arbeitswerkzeugen sowie die Abschaffung der Nachtarbeit für Bäckergesellen.
Da jedoch eine revolutionäre Alternative weder im Interesse der deutschen Fürsten noch der französischen Reaktionäre liegen konnte, ermöglichte es die deutsche Armee den französischen Streitkräften, den Belagerungsring von Paris zu passieren und die Kommune militärisch niederzuschlagen. Mehrere tausend Tote waren das Ergebnis. Die Pariser Kommune endete am 28. Mai 1871 mit der Erschießung von 147 Kommunarden an der südlichen Mauer – Mur des Fédérés – des Friedhofs Père Lachaise.
Man kann also zurecht behaupten, dass das Deutsche Reich auf den Fundamenten eines Angriffskrieges und der Niederschlagung der revolutionären Bewegung in Paris gegründet worden ist. In den anschließenden Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich musste Frankreich nicht nur erhebliche territoriale Verluste akzeptieren, sondern auch große finanzielle Reparationen leisten, die in den Folgejahren als »warmer Regen« in deutsche Prachtbauten investiert wurden.
Das ideologische Fundament
Ein Nationalstaat benötigt nicht nur ein Territorium und ein ökonomisches Fundament, sondern auch einen ideologischen Überbau, um den in diesem Staat lebenden Menschen eine Identifikation zu ermöglichen. In der 1848er-Revolution war diese verbunden mit den Forderungen nach bürgerlichen Freiheiten und politischer Mitwirkungsmöglichkeit. Doch genau dies ermöglichte der neue Staat, das »Deutsche Kaiserreich«, nicht. Zwar waren in der neuen Verfassung einzelne Freiheitsrechte enthalten, insbesondere bezogen auf das wirtschaftliche Handeln, jedoch fehlten sämtliche Garantien dessen, was man heute unter bürgerlichen Freiheiten wie Persönlichkeitsrechte, Meinungs- und Versammlungsfreiheit versteht. Die politische Partizipation war durch das Dreiklassenwahlrecht (in Preußen gültig bis 1918) und den ungleichen Zuschnitt der Wahlkreise zum Reichstag, der eine Dominanz konservativer und feudaler Vertreter garantierte, geprägt.
Um unter solchen Voraussetzungen eine Identifikation mit dem neuen Staat zu erreichen, waren ideologische Fundamente nötig, die man unter den vier Begriffen: Obrigkeitsstaat, Militarismus, völkischer Nationalismus und Antisemitismus zusammenfassen kann.
Von Obrigkeitsstaat spricht man, wenn die öffentlichen Angelegenheiten nahezu ausschließlich durch einen Herrscher sowie eine ihm zugeordnete aristokratische, militärische oder bürokratische Führungsriege geregelt werden. Und genau diese Strukturen prägten die wilhelminische Gesellschaft. Als Pendant zur Obrigkeit ist der Einzelne als »Untertan« anzusehen, der sich widerspruchslos in dieses System einzufügen hat, davon aber auch – je nach seinem gesellschaftlichen Stand – profitieren kann. Heinrich Mann hat in seinem Roman »Der Untertan« Anfang des 20. Jahrhunderts kongenial diese gesellschaftliche Wirklichkeit und die sie tragenden Mächte (Schule, Kirche, Militär, Verwaltung) nachgezeichnet.
Eines der zentralen Fundamente, in dem sich die Macht des Adels dauerhaft festigen sollte, war der Militarismus im Deutschen Reich. Das bedeutete nicht nur Aufrüstung und Aufbau einer einheitlichen Armee auf der Basis des preußischen Modells, sondern die Militarisierung der gesamten Gesellschaft. »Hamm se jedient?« Diese Frage an den Schuster Voigt in Carl Zuckmayers Roman »Der Hauptmann von Köpenick« sollte über die Wiedereingliederung in die wilhelminische Gesellschaft nach dessen Gefängnisaufenthalt entscheiden. Die Frage macht zugleich deutlich, wie weit das Militär und das Militärische im Deutschen Reich gesellschaftsprägend waren.
Zur Zeit der sich entwickelnden Nationalstaaten in Europa war nationalistische Propaganda keine deutsche Spezifik. Reaktionär und besonders wurde sie jedoch durch eine Verbindung von Nationalismus und völkischem Denken, das in dieser Form für das wilhelminische Deutschland prägend wurde. Der ursprünglich von Emanuel Geibel in einem anderen gedanklichen Kontext 1861 formulierte Satz »Am deutschen Wesen mag die Welt genesen« wurde vom Wilhelminismus zu einem Schlagwort umgedeutet. Damit wurde nicht nur ein globaler Führungsanspruch erhoben, sondern das deutsche Volk konnte auch als höherwertig dargestellt werden. Das bezog sich auf alle Nachbarländer und deren Bevölkerung, hatte aber in seiner rassistischen Dimension Konsequenzen, die ein wichtiges Fundament des Wilhelminismus verstärkten, nämlich den Antisemitismus.
Dass dieser Antisemitismus, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von seiner christlich-antijudaistischen Tradition zu einer rassistischen Legitimation gewandelt hatte, in der Mitte der herrschenden Gesellschaft verankert war, zeigte die Aussage des Berliner Professors Heinrich von Treitschke. Er löste mit dem Satz »Die Juden sind unser Unglück« 1879 den sogenannten Berliner Antisemitismus-Streit aus. Hier wurden Thesen vertreten, die man zurecht als gedankliche Vorläufer des eliminatorischen Antisemitismus der Nazis bezeichnen kann. Und es war nicht nur das »ideologische Fußvolk« an diesem Streit beteiligt. Auch Kaiser Wilhelm II. war Vertreter dieses Antisemitismus. Sein protestantischer Hofprediger Adolf Stöcker saß als Abgeordneter einer antisemitischen Partei seit 1878 im Reichstag.
Als gesellschaftlichen Gegner hatten die das deutsche Kaiserreich tragenden politischen Kräfte die Arbeiterbewegung und die politische Linke insgesamt ausgemacht. Da diese für die Überwindung von Adelsherrschaft und kapitalistischer Wirtschaftsordnung kämpften, traf sie der Bannstrahl in der Gestalt des »Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« (Sozialistengesetz). Mit diesem Gesetz verbot und verfolgte von 1878 bis 1890 das Kaiserreich sämtliche sozialistischen und gewerkschaftlichen Organisationen. Linke Versammlungen wurden aufgelöst, die Herstellung und Verbreitung sozialistischer Schriften unter Strafe gestellt. Insbesondere nach Streikaktionen fanden immer wieder Massenverhaftungen statt. Die Arbeiterorganisationen reagierten auf diese Verfolgung mit einer Verlagerung ihrer Aktivitäten in den Untergrund beziehungsweise ins Ausland. Einzig die gewählten SPD-Abgeordneten im Reichstag blieben aufgrund ihrer parlamentarischen Immunität unangetastet. Als das Gesetz 1890 nicht mehr verlängert wurde, ging die SPD deutlich gestärkt aus den nächsten Reichstagswahlen hervor.
Expansionspolitik
Das zentrale Element des wilhelminischen Reiches war seine imperialistische Perspektive. Schon an seiner Wiege stand mit der Annexion von Elsass-Lothringen und weiterer Gebietsteile der preußische Expansionismus. Damit waren aber die Erwartungen an die neue Rolle des »Deutschen Reiches« im Gefüge der europäischen Mächte nicht erschöpft. Die Herrschenden forderten für sich einen »Platz an der Sonne« (Reichskanzler Bernhard von Bülow, 1897). Das hieß, auch einen Anteil an der kolonialen Ausplünderung der Welt. Ärgerlicherweise war die damals erschlossene Welt bereits unter den kolonialen Hauptmächten England, Frank-reich, Spanien, Portugal, Belgien und den Niederlanden aufgeteilt, so dass das Deutsche Reich nur die Reste übernehmen oder zu Lasten einer der Hauptmächte Gebiete beanspruchen konnte. Von daher beschränkten sich die deutschen Besitzmöglichkeiten auf Stützpunkte im pazifischen Raum (unter anderem Neuguinea) und vier Gebiete im südlichen Afrika (Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwest, Kamerun und Togo). Eine zentrale Begründung für diese Kolonialpolitik war die gleichzeitige Abschottung des deutschen Marktes im Interesse der heimischen Bourgeoisie durch Schutzzoll-Politik gegenüber der Konkurrenz aus Großbritannien.
Treibende Kräfte für die politische Legitimation dieser Expansion waren der Deutsche Kolonialverein und der »Alldeutsche Verband«, ein – neudeutsch formuliert – Think Tank der imperialistischen Expansionspolitik. Er war trotz geringer Mitgliederzahlen die einflussreichste Organisation des völkischen Spektrums. Der Verband stellt in den Jahren seiner Existenz (gegründet 1891, aufgelöst 1939) eine organisatorische und ideologische Klammer zwischen dem Kaiserreich und dem deutschen Faschismus dar. Sein Programm, geprägt durch seinen Vorsitzenden Heinrich Claß, war expansionistisch, pangermanisch, militaristisch, nationalistisch sowie von rassistischen und antisemitischen Denkweisen bestimmt. Dabei ging es nicht nur um Kolonialismus, sondern auch um die Errichtung eines völkischen Staates, dessen »weltanschauliches Koordinatensystem« durch Sprache, Religion und »Rasse« geprägt sein sollte. Sprache und Religion sollten der deutschen »Rasse« entsprechen und in der Tradition der Germanen stehen. Das deutsche Volk wurde als höchste aller »Rassen« beschrieben. Durch ein »Rassenerneuerungsprogramm« sollte die »Rassenreinheit« verwirklicht werden. Der Alldeutsche Verband formulierte auch die Losung »Volk ohne Raum« und die daraus abgeleitete Forderung nach Lebensraum für das deutsche Volk, den man schon damals vor allem im Osten sah. Auf »Europa’s Zukunftskarte« reichte das deutsche Kaiserreich von St. Petersburg über das Baltikum bis Antwerpen, wobei Nordfrankreich als »neue deutsche Reichslande« bezeichnet und England und Wales als »Deutsches Schutzgebiet« ausgewiesen wurden. Große Teile Westruss-lands wurden dabei übrigens Österreich-Ungarn zugeschlagen. Dazwischen befand sich noch ein »Königreich Polen« unter deutscher Kontrolle.
Dass es sich hierbei nicht nur um großdeutsche Fantasiegebilde handelte, machte das Kaiserreich schon lange vor dem Ersten Weltkrieg deutlich. Dabei war militärischer Expansionismus immer wieder direkt mit Rassismus verbunden. Bekannt ist der Einsatz deutscher Soldaten in China gegen den »Boxer-Aufstand« zu Beginn des Jahres 1900. Wilhelm II. verabschiedete die deutschen Truppen am 27. Juli 1900 in Bremerhaven mit seiner berüchtigten »Hunnenrede«: »Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!«
Vergleichbar blutig gestaltete sich die Niederschlagung von Aufständen der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialmacht in Deutsch-Südwestafrika während der Jahre 1904 bis 1908. Der Oberbefehlshaber Generalleutnant Lothar von Trotha formulierte für die deutschen Soldaten einen Vernichtungsbefehl: »Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. […] Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.«
Unterstützt wurde er übrigens von dem preußischen Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen, der den Angriffsplan auf Belgien im Ersten Weltkrieg entwickelte. Im Ergebnis dieses Mordbefehls starben mindestens 40.000 bis 60.000 Herero sowie etwa 10.000 Nama.
Dass das Deutsche Reich in seinem Expansionsdrang nicht vor einer erneuten militärischen Konfrontation mit Frankreich zurückschreckte, zeigte 1911 die zweite Marokkokrise. Auf persönlichen Befehl Wilhelm des II. wurde das deutsche Kanonenboot »Panther« zusammen mit zwei weiteren deutschen Kriegsschiffen nach Agadir geschickt, um Frankreich unter Druck zu setzen. Seitdem kennt man den Begriff der »Kanonenboot-Politik«.
Was bedeutet das für Antifaschisten heute?
Schon dieser äußerst knappe historische Rückblick macht deutlich, wie weit bereits in der Gründung des Deutschen Reichs alle Elemente der späteren faschistischen Politik angelegt waren. Und so kann es nicht überraschen, dass Neofaschisten und »Reichsbürger« nicht nur das Hitler-Regime, sondern auch das wilhelminische Deutschland als politische Schablone für ihre völkischen, rassistischen und expansionistischen Vorstellungen nehmen.
Es war aus ihrer Sicht ein »starkes Reich«, das autoritär regiert ein klares Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertan kannte. Dabei war nur derjenige ein »richtiger« Untertan, der im völkischen Sinne »Rasse«reinheit mitbrachte.
Dieses Reich forderte schon damals »Lebensraum für das deutsche Volk« und eine tatsächliche Eliminierung des Judentums aus der deutschen Volksgemeinschaft. Alle anderen Volksgruppen hatten dem »deutschen Volk« als »Hiwi« (»Hilfswillige« – ein Begriff, den es heute im Sprachgebrauch immer noch gibt) zu dienen. Und in seinen Träumen schwärmt jeder Neonazi und Reichsbürger davon, in einem Land zu leben, in dem »Fremde« Angst davor haben müssen, »etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen«, wie Wilhelm II. in seiner »Hunnenrede« so drastisch formulierte.
Damit so etwas nie wieder geschieht, liegt es auch an den antifaschistischen Kräften, sich nicht nur mit den menschenverachtenden Verbrechen des deutschen Faschismus auseinanderzusetzen, sondern auch die politischen und ideologischen Vorläufer dieser Haltung in den Blick zu nehmen. Antifaschisten sollten darauf achten, dass die Reichsgründung und das wilhelminische Deutschland nicht einfach als »normaler geschichtlicher Vorgang« abgefeiert werden, sondern mit ihren Möglichkeiten diese Zusammenhänge thematisieren.
Zum Weiterlesen:
Antisemitismus im Kaiserreich u.a.
»Handbuch des Antisemitismus.Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart«. Im Auftrag vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.
Hrsg. von Benz, Wolfgang. In Zusammenarbeit mit Bergmann, Werner / Heil, Johannes / Wetzel, Juliane / Wyrwa, Ulrich, Redaktion Mihok, Brigitte. Bd. 1 (2008), Länder und Regionen, 444 S. K. G. Saur Verlag 2008, 99,95 Euro
Kolonialismus und Kaiserreich u.a.
Gerd Fesser, Das Deutsche Kaiserreich, Basiswissen, 127 S., Papyrossa-Verlag, 2015, 9,90 Euro
Gerd Fesser, Der Traum vom Platz an der Sonne, Deutsche ›Weltpolitik‹ 1897–1914, 239 S., Donat-Verlag, Bremen, 1996, 11,99 Euro
Horst Gründer, Hermann Hiery (Hg.): Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick. 352 S., be.bra Verlag, Berlin, 2017, 24 Euro