Dimension eines Verbrechens
6. November 2021
Ausstellung zu sowjetischen Kriegsgefangenen in Berlin-Karlshorst
Was macht man, wenn man viele Jahre in einem internationalen Netzwerk eine Ausstellung erarbeitet und dann – unter Corona-Bedingungen – vor dem Risiko steht, dass sie zum historischen Datum nicht in den Räumlichkeiten eines Museums präsentiert werden kann? Man setzt sie technisch als Outdoor-Ausstellung um und zeigt sie im Garten – so geschehen im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst, wo im Juni 2021 zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion die Ausstellung »Dimensionen eines Verbrechens« eröffnet wurde.
Erarbeitet wurde diese Präsentation zu sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg vom Deutsch-Russischen Museum, der KZ Gedenkstätte Flossenbürg, der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, dem Deutschen Historischen Institut in Moskau und dem Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge. Eröffnet wurde die Ausstellung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Der ukrainische Botschafter meinte, sich über diese Veranstaltung beschweren zu müssen, würde doch der Name des Veranstaltungsortes die anderen Opfer der ehemaligen Sowjetunion ignorieren. Folgerichtig verweigerte er eine Teilnahme an der Eröffnung der Ausstellung, die selbstverständlich an alle sowjetischen Kriegsgefangenen erinnerte.
Die Präsentation ist nach verschiedenen Themenfeldern geordnet: Rechtsbruch, Verelendung, Hungersterben, Aussonderungen, Arbeitseinsatz, Überleben, Kriegsende, Rückkehr und Erinnerung. Der erste Bereich behandelt die deutschen Verbrechen gegen internationale Vereinbarungen über die Behandlung von Kriegsgefangenen durch Feindstaaten. Die beiden folgenden Kapitel zeigen deutlich, dass der Vernichtungskrieg nicht nur in den überfallenen Gebieten praktiziert wurde, sondern dass der Wille zur Ermordung auch gegenüber den Kriegsgefangenen galt. Unter der Überschrift Aussonderung behandelt die Ausstellung alle Formen der Selektion, von der Tötung von politischen Kommissaren – von denen die meisten im KZ Sachsenhausen, im KZ Dachau-Hebertshausen und im KZ Buchenwald erschossen wurden – bis zur Selektion von Arbeitsunfähigen. Beim Thema Arbeitseinsatz wird gezeigt, wie im Laufe des Krieges der Wert der Arbeitskraft der Kriegsgefangenen den Vernichtungswillen überwog. Arbeitsorte waren Bergbau, Landwirtschaft und insbesondere die Rüstungsindustrie.
Die drei Bereiche Kriegsende, Rückkehr und Erinnerung behandeln den Umgang mit den überlebenden Kriegsgefangenen in der Sowjetunion nach 1945. Dokumentiert werden Berichte von Kriegsgefangenen, die als »Verräter« angesehen nach der Haft in den deutschen Lagern bei der Rückkehr in sowjetische Arbeitslager verbracht wurden. In einer statistischen Auswertung wird aber auch gezeigt, dass über 80 Prozent der ehemaligen Kriegsgefangenen anschließend entweder wieder in den Reihen der sowjetischen Streitkräfte ihren Dienst taten, sich in Arbeitsbataillonen am Wiederaufbau beteiligten oder aus Alters- und Gesundheitsgründen nach Hause entlassen wurden.
In zwölf biographischen Skizzen wird den Kriegsgefangenen und ihrer Geschichte ein Gesicht gegeben, Kriegsgefangene aus verschiedenen Sowjetrepubliken, Frauen und Männer, die in unterschiedlichen Lagern inhaftiert waren bzw. ermordet wurden. Die kontroverseste Figur ist dabei der Ukrainer Iwan M. Demjanjuk, der als einer der »Trawniki« genannten Hilfswachmänner im Vernichtungslager Sobibor und im KZ Flossenbürg eingesetzt war. Ihm wurde nach seiner Ausweisung aus den USA 2011 am Landgericht München der Prozess gemacht.
Eine Herausforderung für die Geschichtsforschung bis heute stellt das Thema »Lagerstandorte und Opferzahlen« dar. Bekannt ist, dass in Finnland und Norwegen, in allen okkupierten Gebieten der Sowjetunion, im ehemaligen Polen, in Österreich und natürlich im Deutschen Reich mehrere tausend Lager und Haftstätten mit sowjetischen Kriegsgefangenen zu finden waren. Die Ausstellung spricht von über drei Millionen ermordeten Rotarmisten, wobei man bis heute für zahlreiche Lager auf Schätzungen angewiesen ist. Gesichert ist die Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller sowjetischen Kriegsgefangenen durch die Haftbedingungen getötet wurde. Als Ergänzung zu den Opferzahlen und Lagerstandorten zeigt die Ausstellung knapp zwei Dutzend Gedenkorte, die sich mit dem Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen beschäftigen.
Der informative Katalog enthält neben dem Ausstellungsmaterial vertiefende Beiträge zur Ambivalenz von historischen Bildern als Quelle der Geschichtsforschung, zum Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener im Reichsgebiet 1941–1945, zur Überführung von etwa 100.000 Kriegsgefangenen in KZ sowie zur Erinnerung im deutschen und sowjetischen bzw. russischen Geschichtsnarrativ.
Die Ausstellung wird noch bis zum 16. Januar in Berlin-Karlshorst gezeigt, später soll sie auch in Bergen-Belsen und Flossenbürg zu sehen sein.