Viele Fragen ans Subjekt
7. Januar 2022
Und kaum Antworten bietet eine Ausstellung über den Holocaust
Die Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museum stellt die ganz große Frage: Wie war der Holocaust möglich? Bei ihrer Beantwortung richtet sie sich auf die Subjektivität der Einzelnen. Ausgehend von den »gewöhnlichen Menschen« konzentriert sie sich auf alltägliche Gewalt und persönliche Handlungsoptionen. Welche Beweggründe hatten diese Menschen, ihre Nachbarn zu verraten? Warum schauten sie bei Gewalt gegen Jüdinnen und Juden zu und schritten nicht ein? Wie profitierten sie von der Ausgrenzung und Verfolgung ihrer Nachbarn oder gar ehemaligen Freunde?
Täterschaft und Kollaboration
Die mehr als zwanzig Tafeln widmen sich unterschiedlichen Motiven und verschiedenen Formen von Täterschaft und Kollaboration, aber auch von Hilfestellung oder Widerstand auf Ebene des Individuums und fragen nach den Konflikten, denen sich diese ausgesetzt sahen.
Die Ausstellung arbeitet vorwiegend mit großflächigen Fotografien; eine Vertiefung des Bildmaterials durch die recht kurzen Begleittexte geschieht nur stellenweise. Meist liefern sie beschreibende Informationen zu den Bildinhalten und heben einzelne Akteure hervor, die auch auf den Fotos selbst markiert werden. So wird der Blick gezielt auf zunächst passiv wirkende, abseits stehende Personen gelenkt. Was geht in ihnen vor, was haben sie in diesen Momenten gedacht? Scheinbar Nebensächliches soll anregen, über die Menschen vor und hinter der Kamera nachzudenken.
In der Führung durch die Ausstellung wurde gesondert auf den Entstehungszusammenhang einzelner Fotos hingewiesen. Doch gerade weil unser Wissen über den Nationalsozialismus meist durch Bilder der Täter vermittelt wird, hätte dieser Aspekt – die durch Täterschaft überformte Perspektive der Bilder, ihr damaliger Zweck sowie die Wirkung auf heutige Betrachter – auch in der Ausstellung selbst vertieft werden müssen. Dort bleibt er aber unterbelichtet.
Unbeantwortet bleibt, weshalb Nazis ihre Verbrechen selbst dokumentierten – um die Demütigung der Opfer medial zu verstetigen und zu intensivieren oder die reibungslose Effizienz ihrer Gewalt (auch zu Propagandazwecken) festzuhalten? Als Trophäe oder schlicht, weil es einfach normal war? Letzteres legt ein Filmausschnitt nahe, der die öffentliche Erniedrigung der polnischen Zwangsarbeiterin Bronia und des deutschen Landarbeiters Gerhard in Steinsdorf im heutigen Polen zeigt. Sie werden geschoren und in einem Umzug mit kindlichen Trompetenspielern routiniert und choreographiert durch die Straßen eher geführt als gehetzt. Das Fehlen von sichtbarem Hass und unkontrollierter Gewalt irritiert nachhaltig.
Eine Fotografie aus dem regionalen Teil, den die Gedenkstätte Osthofen als Ergänzung zur allgemeinen Wanderausstellung erstellt hat, zeigt eine ähnliche Szenerie. Eine Drogerie erhielt den Auftrag, den »Guntersblumer Schandmarsch« am 10. November 1938 zu dokumentieren, bei dem Nazis und Dorfbewohner sechs jüdische Männer, die aus der Synagoge geraubte Gebetsmäntel und Torarollen tragen mussten, durch die Straßen trieben. Inwieweit die Fotografin sich gezwungen sah, den Auftrag umzusetzen, ob sie aus Überzeugung handelte oder vorab in den Ablauf involviert wurde, um danach vom Verkauf der Bilder zu profitieren, bleibt unklar.
So ergeben sich statt Antworten eher weitere Fragen, die zwar interessante Impulse zum Nachdenken geben. Insgesamt aber lassen sie die Besucher*innen durch den Fokus auf Einzelne und die Ausblendung gesellschaftlicher Strukturen etwas ratlos zurück. Die Frage, wie der Holocaust möglich war, verliert sich immer wieder im Aufruf zur Interpretation über die Innenwelten der auf ihre Subjektivität reduzierten Akteure. Diese und ihre Handlungen werden aber nur in der Wechselwirkung mit gesellschaftspolitischen und ideologischen Entwicklungen verständlich.
Nonchalant und ohne Skrupel
Warum sich Menschen nonchalant und ohne den geringsten Skrupel das Kaffeeservice ihrer deportierten Nachbarn aneigneten, kann nur begreifen, wer sowohl die Ideologie des Naziregimes als auch den historischen Kontext mitdenkt: Vernichtungspolitik, die brutale Zerschlagung der Arbeiterbewegung und jeglichen Widerstands gegen den NS, »Arisierung« und Ausschaltung unliebsamer Konkurrenz sowie die Vorbereitung des Angriffskrieges, die Profitmargen jenseits von Kaffeetassen bescherten.
Dies soll keinen Determinismus nahelegen oder behaupten, dass Menschen in einem Terrorregime automatisch gezwungen sind, sich barbarisch zu verhalten. Aber wirklich Erkenntnis bringend wird die Frage nach dem Verhalten der Einzelnen erst in oben erwähnter Wechselwirkung.
Diese Aspekte können aber durch ein Begleitprogramm fruchtbar gemacht werden, das auch von den Ausstellungsmachern selbst empfohlen wird. Das teilweise Abdriften der Ausstellung in subjektive Einfühlung kann durch die Vermittlung aufgefangen werden und produktive Denkanstöße zu den ideologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus bieten.
Die Ausstellung ist 2022 voraussichtlich an folgenden Orten zu sehen:
19.1.–18.3., Kassel: Rathaus Kassel
20.1.–24.2., Erfurt: Thüringer Landtag
1.3.–1.5., Dresden: Hygiene-Museum
2.5.–30.6., Pirna: Rathaus
Weitere Informationen:
https://kurzelinks.de/einigewarennachbarn
Diese Ausstellung wird in drei Formaten angeboten: als Version mit Stahlpaneelen, als Roll-up-Version und als Posterset bestehend aus 22 Plakaten. Außerdem gehören drei Videos zur Ausstellung. Das Museum arbeitet mit der jeweiligen Gastgeber-einrichtung an Bildungsangeboten und -aktivitäten hinsichtlich der Ausstellungsziele zusammen. Anfragen an ewn@ushmm.org