Nichts mit Antifa
7. Januar 2022
In »Über Menschen« erinnert Juli Zeh an fehlende Brandmauern gegen rechts
Die Bestsellerautorin Juli Zeh hat nach ihrem Erfolgsroman »Unter Leuten« eine Art Fortsetzung geschrieben. Aus den Leuten wurden Menschen.
Dora lebt mit ihrem Lebensgefährten Robert in Berlin, als 2020 die Corona-Pandemie ausbricht. Robert ist überzeugt, dass die ergriffenen Maßnahmen helfen, die Pandemie zu bekämpfen. Er geht aber zu weit und wird übergriffig, als er von Dora verlangt, dass sie die Spaziergänge mit ihrer Hündin »Jochen« auf das minimal Nötigste verkürzt. Dora entflieht dieser Beziehung nach Brachen in der Gemeinde Geiwitz im Landkreis Prignitz. Der Roman ist wunderbar leicht zu lesen, auch weil er so mitten in unserer Zeit spielt. Corona, Masken auf, Impfen, »flatten the curve«.
Sehr schnell aber fühlte man sich im Buch stehen gelassen. Nämlich just in dem Augenblick, als sich der brummelige Nachbar vorstellte mit den Worten: »Hallo, ich bin hier der Dorf-Nazi.« Zeh führt dazu aus: »Der Satz würde semantisch keinen Sinn ergeben, wenn alle anderen auch Nazis wären. Obwohl nicht gesagt ist, dass sich Gote mit Semantik auskennt. Also keine Nazis in Bracken. Nur ein bisschen gepflegter Alltagsrassismus.«
Ich erwartete nun, dass Dora sofort eine Antifa-Gruppe gründet, die die mit noch demokratischen Werten lebenden Dorfbewohner*innen mobilisiert, um sich mit Gote und seinen Bier trinkenden und das Horst-Wessel-Lied grölenden Freunden zu prügeln oder wenigstens zu diskutieren. Dora schließt Freundschaft mit dem Schwulenpaar Tom und Steffen, AfD-Wähler. »›In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen‹, erklärt Tom.« Nichts mit Antifa.
Gotes kleine Tochter, Franzi, ist über den Sommer zu Besuch bei ihrem Vater und freundet sich mit der Hündin Jochen und Dora an. Und so arrangiert sich Dora mit dem Dorfnazi. Steht mit ihm rauchend und biertrinkend an der Mauer, die zwischen ihren beiden Grundstücken steht. Sie erfährt über Gote, dass er wegen schwerer Körperverletzung und versuchten Totschlags zu einer Haftstrafe verurteilt worden ist. Gote rechtfertigt sich damit, dass es sich bei dem Kontrahenten um einen ehemaligen Antifaschisten handelte und dieser ihn mit einem Messer angegriffen hätte. Dabei habe er doch nur einer Rede von Christian F., einem Neonazi, zuhören wollen.
Zwischendurch liest man vom Dorfleben in Bracken, der Heiterkeit des Kindes Franzi und dem allabendlichen Treffen von Dora und Gote an der Mauer – Zigaretten müssen geraucht und Bierflaschen leer getrunken werden. Bei Gote wird ein Gehirntumor diagnostiziert – nicht mehr therapierbar. Die Dorfgemeinschaft veranstaltet ein Abschiedsfest für ihren Dorfnazi. Gote ist gerührt.
Während Gotes Tumor Raum fordert, erfährt sie: »›Im Sommer 92 hat mich mein Vater mit nach Rostock genommen. Im Barkas, wie Touristen. Ich fand’s toll. Endlich raus aus der Bude. Abends Pyro, Bier und geile Stimmung. War ein Volksfest. Kann man nicht anders sagen.‹ Dora versteht nicht gleich, was er meint. Dann begreift sie und schlägt innerlich auf dem Boden auf. Ein Sturz aus großer Höhe. Rostock-Lichtenhagen, das Sonnenblumenhaus. Die heftigsten rassistischen Ausschreitungen seit dem Zweiten Weltkrieg. ›War wie ne Auferstehung. Endlich wieder was los.‹ Immerhin ist er kein Reichsbürger, sagt sie sich. Er leugnet nichts, glaubt nicht an -QAnon, gehört zu keinem bewaffneten Untergrund und ist nicht Mitglied der NPD. Lichtenhagen ist dreißig Jahre her.« Gote ist tot. Dora fällt in tiefe Trauer, organisiert nun die Beerdigung für den Dorfnazi. Dora fängt an, über Liebe nachzudenken. Über Robert und auch über Gote.
Bereits früh fiel der Satz: »Vielleicht, denkt Dora, ist das Einnehmen von Haltungen nur so lange richtig und wichtig, wie man die Dinge aus sicherer Distanz betrachtet.« Hier habe ich beim Lesen aufgeschrien. Nach dem Lesen des Buches war ich wütend und enttäuscht darüber, dass Juli Zeh ihre Leserschaft so stehen lässt, ohne mahnende Worte, ohne Grenzen aufzuzeigen; ich fühlte mich sprachlos. Doch mittlerweile weiß ich, dass Juli Zeh nicht verantwortlich ist für unsere fehlenden Brandmauern, für unsere Distanzlosigkeit gegen rechts.
Ja, Nazis sind Töchter, Söhne, vielleicht auch Mütter und Väter. Nazis haben Träume und Ängste. Nazis sind Menschen, bleiben aber Nazis. Über Gotes Tod war ich nicht traurig. Er war ein Nazi. Ich empfand Mitleid mit Franzi, seiner kleinen Tochter, die ihren geliebten Vater verloren hat. Ich bedauerte Dora, weil sie dem Trugschluss erlag, in Gote »nur den Menschen« sehen zu können und nicht den Nazi. Die Wut über das Ende des Buches ohne mahnend erhobene Finger ist verflogen. Es hat mir mehr über mich gezeigt, als mir zu Anfang bewusst war. Und ich werde Juli Zehs Buch »Über Menschen« wieder lesen.