Ein Nebenprodukt?
8. März 2022
documenta in Kassel: Antifaschismus in der Ausstellung zeitgenössischer Kunst
Was hat eine alle fünf Jahre stattfindende Ausstellung zeitgenössischer Kunst mit unserem antifaschistischen Anliegen zu tun? Diese Frage, die sich aufdrängen mag, lässt sich schnell beantworten. Seit 1955 findet die documenta in Kassel statt. Fast immer hat sie in ihren Konzepten und zahlreichen Kunstwerken einen dezidiert politischen Anspruch erhoben, der auf Überwindung von rassistischer Ausgrenzung, gesellschaftliche Umverteilung oder Sichtbarmachung von Verfolgung und kolonialer Ausplünderung hinauslief. Über Jahrzehnte beschäftigte sich jedoch niemand mit der Genese der Ausstellung selbst.
Konzipiert wurde die documenta vom damaligen Initiator Arnold Bode als Nebenprodukt zur Bundesgartenschau in Kassel. Zehn Jahre nach Kriegsende wurde in der nordhessischen Metropole, die durch die faschistische Kriegspolitik weitgehend zerstört war, eine heile Welt präsentiert, womit nicht nur die Trümmer der Stadt vergraben werden sollten, sondern mit ihnen auch die faschistische Vergangenheit. Arnold Bode nutzte diese Gelegenheit, um auf der documenta von in der NS-Zeit als »entartete Kunst« denunzierte Werke von zeitgenössischen Künstlern zu präsentieren und diese damit wieder als Teil des öffentlichen Kunstbetriebes zu »adeln«. Niemand interessierte sich dafür, in welchem Maße z. B. der »Theoretiker« der documenta, Werner Haftmann, in die Verbrechen des NS-Regimes involviert war. Das präsentierte erst 2021 eine eindrucksvolle Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin.
Dreizehnmal Männer
Ausgehend von dem gesellschaftspolitischen Anspruch der jeweiligen Kuratoren (tatsächlich waren es dreizehnmal Männer) reagierten die vergangenen Ausstellungen und viele ihrer Werke auf politische Bewegungen und neue Fragestellungen. Manch einer erinnert sich vielleicht daran, dass wir von der documenta 13 sogar das Kunstwerk »Disobedient« von Sanja Iveković, das an verschiedenen Orten in der Stadt Kassel gezeigt wurde, als Rückseite der antifa verwenden durften. Kunstwerke wurden in der KZ-Gedenkstätte Breitenau präsentiert, und ein ganzer Saal war Korbinian Aigner, einem bayerischen Dorfpfarrer, der ins KZ Dachau verschleppt worden war, gewidmet.
Die documenta 14 ging in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter, indem in Athen, dem damals zweiten Standort der Ausstellung, auch die Frage der Kriegsverbrechen in der Okkupationszeit thematisiert wurde. Anlässlich der Eröffnungsfeier mit politischer Prominenz organisierten der AK Distomo, die VVN-BdA und die FIR eine internationale Kundgebung in Kassel mit Argyris Sfountouris, der das Massaker von Distomo 1944 als knapp Vierjähriger überlebt hatte, seine Familie dabei verlor und heute um Entschädigung ringt. Es war diesem politischen Auftreten zu verdanken, dass Sfountouris nicht nur nach dem offiziellen Termin vom griechischen Präsidenten zu einem Gespräch eingeladen wurde, sondern – ganz spontan – am Abend des Tages im öffentlichen Programm der documenta 14, dem »Parliament of Bodies«, seine Erfahrungen und politischen Forderungen einem internationalen Publikum präsentieren konnte. Das Kurator:innenteam der damaligen documenta war bestrebt, dieses politisch brisante Thema in die Ausstellung zu integrieren. In diesem Sinne waren auch mehrere Kunstwerke zu verstehen. Marta Minujín (Argentinien) erinnerte mit ihrem »Parthenon der Bücher« am Platz der Bücherverbrennung in Kassel an verbotene und verbrannte Werke.
NSU und VS
Selbst der Mord an Halit Yozgat durch den NSU und die Verbindung des hessischen Verfassungsschutzes waren mit der Videodokumentation einer »Gegenuntersuchung« des Londoner Instituts Forensic Architecture Teil der letzten Ausstellung. Im inhaltlichen Begleitprogramm der documenta wurden antirassistische und antifaschistische Themenstellungen öffentlich diskutiert. Die VVN-BdA konnte dort das Thema »Kunst als Überlebensmittel – Kunst im KZ Buchenwald« an einem Abend dem internationalen Publikum präsentieren. Es war nur folgerichtig, dass die VVN-BdA als Begleitveranstaltung zu den 100 Tagen der Kunstausstellung die große Ausstellung der FIR zum »Antifaschistischen Widerstand in Europa 1922–1945« mit verschiedenen Zeitzeugengesprächen zeigte. Dabei ergab sich auch die Gelegenheit, das Kuratorenteam durch die Ausstellung zu führen.
Diese Erfahrungen der vergangenen Jahre hat die Kasseler VVN-BdA gemeinsam mit weiteren Bündnispartnern veranlasst, sich auch für die kommende documenta 15 vom Juni bis September 2022 wieder aktiv in die Begleitung einzubringen. Die Möglichkeiten dazu sind gegeben. Ruangrupa, das Kurator:innenenteam, hat selbst angeregt, dass sich regionale Akteur:innen und gesellschaftliche Netzwerke zusammenfinden und im kulturellen Austausch mit ihren Angeboten beteiligen sollen. Als spezifischer Beitrag der VVN für das »Public Program« sind Veranstaltungen unter dem Titel »How to resist and survive in hard times« geplant, in denen mit Zeitzeugenberichten und anderen Präsentationsformen an Frauen und Männer aus dem antifaschistischen Widerstand erinnert werden soll.
Die documenta war zuletzt in vieler Munde in Folge einer Veröffentlichung des Bündnisses gegen Antisemitismus Kassel zum Wirken und der Auswahl des indonesischen Kurator:innenkollektivs Ruangrupa, quasi der künstlerischen Leitung der »documenta fifteen«. Der Kern der Veröffentlichung ist die Behauptung, documenta-Kunstschaffende – darunter Unterstützer:innen der antiisraelischen Boykottkampagne BDS aus Ramallah – sollen antisemitische Positionen vertreten. Dem folgten eine Vielzahl von Medienberichten, Erklärungen und Debatten, nicht nur auf Social Media. Aus Platzgründen können wir die Auseinandersetzung hier nicht nachzeichnen, wollen unsere Leser:innen aber auf einige wichtige Webseiten und Statements hinweisen. Ruangrupa: https://ruangrupa.id Die Erklärung des Bündnisses gegen Antisemitismus Kassel: kurzelinks.de/bgak
Die Erklärung der »documenta«: kurzelinks.de/documenta-erklaerung
Die Erklärung der Kasseler VVN-BdA: kurzelinks.de/vvnbda-kassel
Interview mit Meron Mendel, dem Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, mit dem Deutschlandfunk: kurzelinks.de/mendel-dlf