Mehrtägige Odyssee
8. März 2022
Die Flucht von neun Zwangsarbeiterinnen von einem Todesmarsch im April 1945
Zu den eindrucksvollsten Aufzeichnungen über die Zeit des deutschen Faschismus gehören Schilderungen von Flucht, Exil, Widerstand sowie insbesondere Berichte der Überlebenden der Konzentrationslager. Eine dieser Erzählungen aus erster Hand blieb über ein halbes Jahrhundert unveröffentlicht, erschien vor wenigen Jahren auf Französisch und liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Die französische Widerstandskämpferin Suzanne Maudet (1922–1994) beschreibt in »Dem Tod davongelaufen« die abenteuerliche Flucht von neun Zwangsarbeiterinnen von einem Todesmarsch in Sachsen im April 1945.
Deportation nach Ravensbrück
Die junge Französin Maudet hatte sich während der deutschen Besatzung in Frankreich der Résistance angeschlossen und war im März 1944 zusammen mit ihrem Mann verhaftet worden. Es folgte die Deportation ins Frauen-KZ Ravensbrück, wo sie auf Mitgefangene traf, die in Frankreich ebenfalls im antifaschistischen Widerstand aktiv gewesen waren. Sie alle wurden zur Zwangsarbeit nach Leipzig-Schönefeld verbracht, in ein Außenlager des KZ Buchenwald. Dort fertigten 5.000 Frauen und 7.000 Männer Waffen für den Rüstungskonzern »Hugo und August Schneider AG – HASAG1«.
Das Werk wurde im April 1945 durch Luftangriffe schwer beschädigt. SS-Männer und Aufseherinnen trieben die männlichen und die weiblichen Häftlinge auf einen Todesmarsch Richtung Osten. Auf dem Appellplatz des Lagers in Leipzig-Schönefeld, um zwei Uhr morgens kurz vor Beginn des Marsches, beginnen die Aufzeichnungen von Suzanne Maudet. Sie schildert die mehrtägige Odyssee in Nordsachsen. Wie Anwohner:innen die Abgemagerten betrachten, mal hinter Vorhängen versteckt, mal über den Gartenzaun. Der Tross führt durch Dörfer und auch größere Ortschaften wie Wurzen. Am Straßenrand oder in Gräben bleiben die Zusammengebrochenen oder Erschossenen liegen. »Wir marschieren bis zum Dunkelwerden, und dann beginnt zweifellos die Albtraum-Nacht, unsere schlimmste Nacht in Deutschland: Marschieren … immer weiter marschieren … lautes Schrittgetrappel, das nie aufhört … dieses quälende Aufschlagen des Holzes auf dem Pflaster.«
Der Gruppe um Maudet – sechs Französinnen, zwei Holländerinnen und eine gebürtige Spanierin – ist bewusst: Bisher hatten sie kriegswichtige Arbeit verrichtet – nun droht der Tod. Sie werden erfrieren, verhungern oder erschossen, falls eine von ihnen entkräftet zusammenbricht.
Aus Angst und Verzweiflung Mut und Hoffnung
Eindrucksvoll beschreibt Maudet die enge Verbundenheit der jungen Frauen und wie aus Angst und Verzweiflung Mut und Hoffnung erwachsen. »Es wird nicht mehr so weitergehen, und diese Nacht wird die letzte sein. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir werden eine Maschinengewehrkugel im Rücken haben oder wir werden frei sein.« Die Freundinnen entscheiden sich zur Flucht, obwohl sie den Tod bedeuten kann. Doch was tun, wenn sie den nur wenige Meter entfernten Wald oder ein Gebüsch lebend erreichen? Wo genau befinden sie sich, und wo sollen sie hin? Wie verhält sich die Bevölkerung, auf die sie unweigerlich treffen werden? Wem können sie vertrauen, und wo befinden sich die rettenden Amerikaner? Nur eins ist klar: Es geht Richtung Westen, Richtung Heimat.
Ihre Erinnerungen hatte Suzanne Maudet kurz nach ihrer Rückkehr nach Paris verfasst, veröffentlicht wurden sie jedoch lange nicht. Erst im Jahr 2004, 60 Jahre nach der Deportation Maudets und zum 10. Jahrestag ihres Todes, wurde das Buch erstmals publiziert. Pierre Sauvanet, Neffe der Widerstandskämpferin und Professor an der Universität von Bordeaux, hatte sich des Manuskripts angenommen. Die Autorin Gwen Strauss, Großnichte einer weiteren Protagonistin, trug mit aufwendiger Recherche, Archivarbeit und Interviews interessantes Material zusammen. So sind heute Hintergründe über die neun Frauen bekannt, die in der Originalfassung nur mit Vor- bzw. Decknamen benannt sind. Der nun auf Deutsch vorliegende Titel umfasst das eigentliche Fluchttagebuch Maudets sowie biografische Angaben zu den neun Widerstandskämpferinnen und weitere spannende Hintergründe.
1 Die HASAG übernahm bereits 1939 drei Rüstungsfabriken im besetzen Polen. Zehntausende jüdische Zwangsarbeiter:innen wurden dort eingesetzt und starben bzw. wurden ermordet. Die Firma betrieb mehrere Außenlager des KZ Buchenwald. Einer der leitenden Ingenieure des Konzerns, Edmund Heckler (ab 1933 Mitglied der NSDAP), siedelte nach der Befreiung in die Bundesrepublik über und gründete dort 1949 den Rüstungskonzern Heckler & Koch.