Verantwortung für Angriff
13. Mai 2022
34 Jahre nach dem Giftgaseinsatz in Halabdscha weiterhin Proteste
Halabdscha ist eine Kleinstadt mit ungefähr 70.000 Einwohner*innen in der Autonomen Region Südkurdistan, direkt an der Grenze zum Iran und zum Irak gelegen. Sie ist in Deutschland vor allem für den verheerenden Giftgasangriff von Saddam Hussein 1988 bekannt. Dabei starben 5.000 Kurd*innen und viele Tausende wurden verletzt. Noch heute leiden nicht nur die, die diesen Angriff überlebt haben, sondern auch ihre Kinder und die Umwelt.
Die Zentralregierung Iraks hatte in den 80er-Jahren ein besonderes Augenmerk auf Halab-dscha (kurdisch: Helebce), da die Stadt als starkes Einflussgebiet der Autonomiebestrebungen der Kurd*innen galt. Diese Bestrebungen spitzten sich bis ins Jahr 1987 zu Antiregierungsprotesten zu. Die Antwort durch das irakische Militär waren Hinrichtungen von Demonstrant*innen, zahlreiche Verhaftungen und das Einreißen der Häuser von denen, die den Widerstand gegen die Regierung unterstützten.
Einen Tag vor dem großen Giftgasangriff gegen Halabdscha wurde die Stadt von kurdischen Rebell*innen der PUK (Patriotic Union of Kurdistan) mit Hilfe der iranischen Armee eingenommen. Als Antwort darauf flogen ab elf Uhr morgens Kampfflugzeuge der irakischen Luftwaffe über die Stadt, und die Bombardierungen begannen.
Der 16. März, der Tag des Angriffs, ist seitdem ein Gedenktag in ganz Kurdistan. An diesem Tag kommen jedes Jahr Politiker*innen aus dem ganzen Land und den umliegenden Staaten nach Halabdscha, um ihre Anteilnahme auszusprechen. Aber mehr auch nicht, wie die Bevölkerung bemängelt.
Die Bevölkerung steht dem Gedenken, auch der Gedenkstätte selbst, kritisch gegenüber. Zum 18. Jahrestag 2006, wurde die Gedenkstätte von Demonstrant*innen überrannt, die die Fotos der Opfer mitnahmen und das Gebäude in Brand steckten. Auch heute noch wird der Unmut über die leeren Phrasen der Politiker*innen kundgetan. Ungefähr einen Kilometer von dem Monument entfernt, in dem die Offiziellen ihre Reden vor den versammelten Medienvertreter*innen, halten, formierte sich spontan eine Gegendemonstration. Die Menschen sind voller Zorn und schreien. Wen sie anschreien, scheint dabei fast egal. Jeder Mensch, der hier wohnt, hat nahe Verwandte durch den Anschlag verloren und dazu oftmals die eigene Exis-tenz. Während schöne Worte jedes Jahr wiederholt werden, übernimmt niemand wirkliche Verantwortung. Weder hier im Inland noch im Ausland.
Gefordert werden Entschädigungszahlungen, sowohl von der Regierung selbst als auch von den Ländern, die den Anschlag mitzuverantworten haben. Irak, die Niederlande, aber auch deutsche Akteur*innen waren an diesem unfassbaren Verbrechen beteiligt. Aufgrund zahlreicher Beweismittel ist mittlerweile bekannt, dass Firmen aus Deutschland die wichtigsten Akteure beim Bau der Giftgasanlagen unter Saddam Hussein waren. Doch auch diese Verwicklungen geraten zu leicht in Vergessenheit. Über zwei Drittel der irakischen Giftgasanlagen kamen, laut den Berichten von Medico International, von deutschen Firmen. Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes arbeiteten. Doch selbst mit den Beweisen kommt es zu keinem Prozess. Die meisten dieser Taten sind, wenn sie endlich vor Gericht kommen, schon verjährt. Die Hauptaverantwortlichen können durch die sogenannte Dual-Use-Regel, also wenn Materialien sowohl militärisch als auch für den zivilen Gebrauch genutzt werden können, nicht belangt werden. Nicht nur die deutschen Firmen kamen glimpflich davon, auch die Bundesregierung verwahrte sich dagegen, den Angriff als Völkermord zu kennzeichnen. Erst letztes Jahr stimmten CDU/CSU, SPD, FDP und AfD dagegen. Die Grünen enthielten sich.
Die Zurückhaltung der deutschen Regierung bei der Verurteilung des Giftgasangriffs auf Halab-dscha muss auch im größeren Zusammenhang gesehen werden. Die Bundesregierung zeigt hier nämlich vor allem ihre Haltung gegenüber den Kurd*innen. Diese Haltung besteht schon lange. So wurde nach dem Überfall auf Afrin 2018 sowie nach weiteren Angriffen in den letzten Jahren auf kurdische Gebiete durch das faschistische AKP/MHP-Regime in der Türkei bekannt, dass hier auch deutsche Waffen eingesetzt worden waren. Eine
historische Parallele zu Halabdscha ist dabei auch nicht weit entfernt. Erdogan behauptet, er würde »nur« die PKK bombardieren, genauso wie Saddam Hussein behauptete, er würde »nur« die iranische Armee bombardieren, aber tatsächlich werden Zivilist*innen und Geflüchtetenlager die Opfer dieser Angriffe. Doch Deutschland versucht sich, damals wie heute, der Verantwortung zu entziehen. Wie einst der Sprecher der Firmen Karl Kolb und Pilot Plant, die Laboranlagen an den Irak lieferten, ganz treffend sagte: »Für die Leute in Deutschland ist Giftgas eine ganz furchtbare Sache, Kunden im Ausland stört das nicht«.
Erinnern heißt kämpfen und solidarisch mit den Kämpfenden sein. So erinnern auch wir an das grausame Verbrechen an unseren Freund*innen in Halabdscha und ganz Kurdistan.
Beobachter*innen der VVN-BdA beteiligten sich bereits letztes Jahr im Juni an der Friedensdelegation in der Autonomen Region Südkurdistan. Hier ging es vor allem darum, diplomatische und politische Kontakte mit jenen zu unterhalten, die sich klar gegen einen Krieg zwischen verschiedenen kurdischen Gruppen, aber vor allem gegen die Aggressionen der Türkei gegen die kurdischen Regionen aussprechen. Leider sind diese Themen gerade aktueller denn je.
Zum Weiterlesen: The Anfal Campaign against the Kurds, Verlag: Human Rights Watch, 1993. Online unter www.hrw.org/reports/1993/iraqanfal/ANFAL.htm