Mord an Matrosen
13. Mai 2022
Letzte Amtshandlungen von deutschen Marineoffizieren nach der Kapitulation
Der 8. Mai 1945 war der Tag der Kapitulation des NS-Regimes – und heute bewerten wir ihn als Tag der Befreiung. Schon am 5. Mai 1945 trat in Norddeutschland eine Teilkapitulation in Kraft, aber diese bedeutete Tragik und keine Freiheit. In Neuss wird 2022 an diesem Tag eines jungen Menschen gedacht, der 77 Jahre zuvor ermordet wurde.
Nicht nur der Erste Weltkrieg, auch der Zweite endete mit Matrosenaufständen. So starben am 5. Mai 1945 der 21jährige Maschinenmaat Heinrich Glasmacher aus Neuss und zehn seiner Kameraden als einige der letzten deutschen Widerstandskämpfer. Das Mitglied der katholischen Jugend wurde von deutschen Marinekommandeuren zum Tode verurteilt und erschossen, weil er den Matrosenaufstand auf dem Minensuchboot »M 612« nahe der schleswig-holsteinisch-dänischen Küste angeführt hatte. Begünstigt wurde ein solches Verbrechen sicherlich dadurch, dass die Briten der deutschen Wehrmacht im Rahmen der Teilkapitulation die »Aufrechterhaltung der Ordnung« in der Truppe überlassen hatten. Glasmacher und seine Kameraden wollten nicht nach dem Osten fahren, um weiter gegen den »Bolschewismus« zu kämpfen. Die Ermordeten wollten Frieden und Freiheit.
Von den neben Heinrich Glasmacher erschossenen jungen Matrosen des M 612 sind uns die Namen bekannt: Wilhelm Bretzke (22), Gustav Kölle (21), Reinhold Kolenda (20), Helmut Nuckelt (24) Rolf Peters (21), Gerhard Prenzler (21), Gustav Ritz (22), Anton Roth (20), Bruno Rust (22) und Heinz Wilkowski (21). Für sie wurde im September 2020 in Sønderborg (Dänemark) eine Gedenkstätte eingerichtet. Sie gehören zu den sieben angeschwemmten Opfern, die nach der Hinrichtung ins Meer geworfen worden waren. Von ihren weiteren Kameraden fehlte jede Spur.
Sie wurden die ersten Toten im sich mit Hilfe der Briten abzeichnenden Kalten Krieg. Ihre Mörder wurden nie bestraft, einige der hohen Marineoffiziere an der Ost- und Nordseeküste wurden später wieder Offiziere, nun der Bundesmarine.
Was war auf dem M 612 geschehen? Nach Durchsickern der Nachricht von der am 4. Mai 1945 mit den Briten vereinbarten Teilkapitulation entschließen sich die jungen Matrosen zum Widerstand gegen die Durchhalteparolen ihrer Offiziere. Sie bringen das Schiff in ihre Gewalt und nehmen statt auf das heiß umkämpfte lettische Kurland direkten Kurs Richtung Heimat, zunächst wollten sie nach Flensburg. Das Kommando übernimmt Heinrich Glasmacher. Doch bald wird der Minensucher von deutschen Schnellbooten verfolgt und gestoppt. Kapitän zur See Hugo Pahl stellt die alte »Ordnung« auf dem Schiff wieder her und organisiert mit Hilfe der Marineführung ein Standgericht, das elf der aufständischen Matrosen zum Tode verurteilt. Kommodore Rudolf Petersen bestätigte das Urteil, das am 5. Mai auf der Reede vor Sonderburg/Dänemark in der Flensburger Förde vollstreckt wurde.
Es gab weitere solche Aufstände. Es handelte sich um drei Männer auf dem Begleitschiff »Buea«, hingerichtet am 10. Mai 1945, und um Kapitänleutnant Asmus Jepsen sowie drei Männer des Zerstörers »Paul Jacobi«, am 5. Mai 1945 um 10 Uhr – nach Beginn der Kapitulation – erschossen. Sie hatten ebenfalls das Auslaufen nach Osten verhindern wollen.
In derselben Nacht, da Glasmacher und seine Kameraden erschossen wurden, machten sich vier Angehörige des in Dänemark stationierten 2. Schnellbootbataillons im Schutze der Dunkelheit und allgemeinen Auflösungserscheinungen auf den Weg in Richtung Heimat. Es waren die Matrosen Alfred Gail (20), Martin Schilling (22), Kurt Schwalenberg und Fritz Wehrmann (25). Am 6. Mai 1945 werden die Flüchtigen aufgegriffen und an ihre Einheit übergeben. Aufgegriffen von dänischen Bürgern in völliger Verkennung der Gefahr, in die sie die jungen Menschen bringen. Nach der Flaggeneinholung und der Bekanntgabe der bedingungslosen Gesamtkapitulation am 8. Mai werden die vier Deserteure wie ihre Leidensgefährten von M 612 abgeurteilt, drei von ihnen erschossen, Schwalenberg bekam Zuchthaus, praktisch als letzte Amtshandlung der hohen Offiziere, die sich unmittelbar darauf den Westalliierten mit ihren Erfahrungen andienten. Wie im Fall des M 612 hat Kommodore Petersen das Urteil bestätigt; er kommt deswegen später vor Gericht, wird freigesprochen und vom MAD der Bundeswehr (Militärischer Abschirmdienst) übernommen. Die Mutter von Alfred Gail nahm sich nach dem Freispruch des Kriegsverbrechers das Leben.
Die Defa hat vor 50 Jahren den jungen Widerständlern mit der Serie »Rottenknechte« ein filmisches Denkmal gesetzt, und Siegfried Lenz lieferte 1984 das literarische Gegenstück mit dem Titel »Ein Kriegsende«. Sechs Jahre (1978) zuvor musste Hans Filbinger (CDU) als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurücktreten. Es waren vier Todesurteile gegen junge Matrosen bekannt geworden, die Filbinger als Marinerichter bei Kriegsende in Norwegen verhängt hatte.
In einem Fall – im Fall des Matrosen Walter Gröger – war das Urteil vollstreckt worden, Filbinger leitete die Vollstreckung. Er rechtfertigte die Mordurteile bis zuletzt: »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.«
Dass es auch 1945 Matrosen gab, die sich gegen den Krieg erhoben wie 1918, ist heute weitgehend unbekannt. Die letzten Veröffentlichungen darüber liegen 50 Jahre zurück. Es wird Zeit, auch diese Seite des antifaschistischen Widerstandes junger Menschen wieder in Erinnerung zu rufen und auch die Tatsache der Weiterbeschäftigung vieler Mörder in der Bundeswehr.
Am 6. Mai um 17 Uhr beginnt an der Gedenktafel für die ermordeten Neusser Widerstandskämpfer:innen in der Neusser Rathauspassage eine Gedenkveranstaltung.