Wo wir stehen
13. Mai 2022
Meinungsaustausch unter Antifaschist*innen zum Krieg in der Ukraine
antifa: Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, der schon jetzt tausende Menschenleben forderte, beschäftigt uns jeden Tag. Was sollten Antifaschist*innen tun und fordern?
Regina Girod: Hier werden Grundwerte des Antifaschismus mit Füßen getreten, obwohl alle angeblich den Frieden verteidigen wollen. Ein Beispiel sind die blau-gelben Flaggen, die hier als Zeichen der Solidarität fungieren. Dabei wissen wir doch, dass Nationalismus immer zu Abschottung, Gewalt und letztlich auch Krieg führt. Antifaschist*innen müssen – auch und gerade jetzt – von ihrem Wertekanon ausgehen. Der leitet an, was wir tun und was nicht. Dem Mainstream, der ja den Einstieg in den Krieg aus »humanitären Gründen« fordert, zu folgen, kann nicht unsere Sache sein. Dem entgegen stehen die Werte des Friedens, der Solidarität und des Internationalismus. Ich fordere schlicht die Nichtbeteiligung Deutschlands am Krieg. Es bleibt uns auch gar nichts anderes übrig. Denn was wir aktuell erleben, ist eine unglaubliche Militarisierung, eine Gewöhnung an Krieg, an die Bundeswehr und an eine krass verengte Konfliktlösungskompetenz unter Nationalstaaten, die in unserer Gesellschaft vorherrscht. Gegen diesen neuen Irrationalismus und die Geschichtsvergessenheit müssen wir vorgehen, und viel massiver als bisher. Die Zeit für bloße Stellungnahmen ist vorbei.
Ulrich Schneider: Zuerst einmal fordere ich, dass eingestanden wird, dass der Konflikt nicht am
24. Februar angefangen hat und hier lange auf eine Eskalation hingearbeitet wurde. Eine Voraussetzung für den Krieg war beispielsweise die Nichteinhaltung von Verträgen, die unter anderem auch unsere deutschen Politiker*innen zusammen mit Frankreich, mit der Ukraine und den Regionen in der Ukraine verabredet hatten (Minsk II). Hier wurde nichts unternommen, um Konflikte zu reduzieren. Es wurden von allen Seiten die regulären Formen von Diplomatie und die Strukturen der internationalen Verhandlung außen vor gelassen. Natürlich ist ein Angriffskrieg nicht zu rechtfertigen. Aber es muss schon mit einkalkuliert werden, wohin diese Taktik aus diplomatischer Isolierung und Sanktionen führt. Deshalb finde ich zwingend, dass die Welt wieder zur Diplomatie zurückkehrt und zwar in der Form, dass die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten, auch der Staaten, die sich mit Russland eine Grenze teilen, mit berücksichtigt werden. Das kann nur auf internationaler Ebene in der Logik des Völkerrechts passieren. Ohne diese Grundlage wird es keine Möglichkeit mehr geben, den Krieg zu beenden oder zukünftige zu verhindern. Und welche Position nehmen wir da ein? 1914 hat Karl Liebknecht gesagt »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« und verweigerte seine Zustimmung zu den Kriegskrediten. Seiner gedenken viele auch heute noch. Wir müssen, genauso wie die Menschen damals, überlegen, wie wir es schaffen, unsere eigene Regierung dazu zu bewegen, in friedenspolitischer Hinsicht aktiv zu werden. Nur wenn es uns gelingt, beispielsweise den bellizistischen Kurs der Grünen zu stoppen, wenn es gelingt, in die SPD hineinzuwirken, beispielsweise durch Mithilfe von gewerkschaftlich Aktiven, dann haben wir eine Chance.
Um hier für mehr Differenziertheit zu sorgen, müssen wir auch über die Rolle der Medien sprechen. Wir erleben ja eine Form von Medienaktivismus, dass sich Journalist*innen als politische Akteure verstehen. Sie sind keine Berichterstatter*innen mehr, sondern in die Kriegspolitik exlusiv und offen involviert. Ich habe wenig Hoffnung, dass wieder eine Form der Kommunikation gefunden wird, wo unterschiedliche, gesellschaftskritische Meinungen, medial zu Wort kommen. Wer versucht, sich mit den hiesigen Quellen ein Bild der Lage zu machen, ist verloren.
Jacqueline Andres: Einige fordern jetzt, dass es einen »Regime Change« in Russland geben muss. Das halte ich für naiv und für Ablenkung von den eigenen Möglichkeiten, etwas gegen den Krieg zu unternehmen. Niemand dankt einfach ab. Schon gar nicht, wenn er von weiten Teilen der Bevölkerung getragen wird. Von außen zu kommen, und das zu wollen, ist noch nie gut ausgegangen. Auf der anderen Seite wollen viele die Ukraine mit deutschen Panzern ausstatten. Um das noch mal klarzustellen: Panzer dienen nicht dem Abbremsen eines Angriffs oder der Sicherung von humanitären Korridoren, sondern zur (Rück)Eroberung von Gebieten. Mit mehr Angriffswaffen verlängern sich die Kriegshandlungen, und sie werden intensiviert. Aber auch generell: Waffen haben immer ihr Eigenleben. Wenn wir uns anschauen, was in Mali passiert ist. Das waren direkte Auswirkungen des Krieges gegen Libyen mit den gleichen Waffen. Die deutschen Waffen an die kurdischen Peschmerga, die damit gegen den Islamischen Staat vorgegangen sind, konnte man danach auf dem Schwarzmarkt kaufen. Waffen, egal welche, verschlimmern die Situation auch in anderen Gebieten auf die kommenden Jahrzehnte. Unsere Forderung kann nur Deeskalation und langfristige Abrüstung lauten. Wenn das ausbleibt, droht sich der Krieg auf die Nachbarländer auszubreiten, und auch der Einsatz von kleineren Atomwaffen ist denkbar. Deutschland ist weiterhin Bestandteil der sogenannten nuklearen Teilhabe mit den USA und hat sich geweigert, den Atomwaffen-Abrüstungsvertrag zu unterzeichnen. Als NATO-Mitglied wird sich Deutschland nicht raushalten können. Deshalb ist es umso wichtiger, diejenigen, die in der Ukraine und in Russland desertieren und den Krieg sabotieren, zu unterstützen. Das ist zwar nur Schadensbegrenzung, aber entspricht viel eher dem Wert der internationalen Solidarität. Über die Auswirkungen der Aufrüstung auf die Klimaerwärmung haben wir noch gar nicht gesprochen. Das Militär und die Rüstungsindustrie, haben einen unglaublichen CO2-Fußabdruck. Auch andere Auswirkungen, werden hier zu wenig besprochen. Wie beispielsweise die auf den Welthunger. Hier reden wir von Preisen, woanders bedeutet die Knappheit, dass Menschen sterben.
Johann Basko: Ich möchte die Veränderungen im sogenannten Mainstream noch mal aufgreifen. Was die Kollaborationen zwischen Rüstung, Kapital, Liberalen und vermeintlichen Humanist*innen anbelangt, ist dieser Krieg eine große Gefahr für die vielen politischen Kämpfe und kleinen Erfolge, die wir in den letzten Jahren hatten. Das ist gerade mit Blick auf Umwelt und Nachhaltigkeit, das Verhältnis vieler Menschen zum Militär, aber auch auf ein längst überkommenes Männlichkeitsbild zu beobachten. Es wird wieder physisch gekämpft, mit dem eigenen Körper, und es wird dafür trainiert – auch hier und nicht nur unter Neo-nazis und Kriegsbefürworter*innen. Um diese Zusammenhänge deutlich zu machen, braucht es Öffentlichkeitsarbeit und unterschiedliche Expertisen, die man zusammenführen muss. Für uns als VVN ist sicherlich der Geschichtsrevisionismus ein Schwerpunktthema. Da müssen wir als Korrektiv mit unserer Erinnerungs- und Gedenkarbeit funktionieren. Die permanenten Relativierungen und Vergleiche, sind nicht hinnehmbar. Putin ist eben nicht gleich Hitler, die Ukraine und auch Russland sind keine Nazidiktaturen. Klar, was es gibt, müssen wir benennen, aber auch sagen, dass es eben doch klare Unterschiede gibt zwischen einem Völkermord oder Genozid und einer Kriegführung, wie der in der Ukraine, die auf Terror gegen die Zivilbevölkerung setzt. Die Sowjetarmee, derer wir als Befreier gedenken, ist nicht die Armee der Russischen Föderation. Darum muss es auch bei den Feierlichkeiten rund um den Tag der Befreiung am 8./9. Mai gehen. Der 9. Mai 1945 ist in jedem Fall nicht der 9. Mai 2022.
Ganz wichtig finde ich auch, den Rassismus gegenüber den Geflüchteten deutlich zu machen. Spätestens seit 2015 ist allen klar, wie viele Menschen an den europäischen Grenzen sterben. Aber wie massiv diese Ungleichbehandlung im Vergleich zu den flüchtenden Ukrainer*innen ist, wird erst jetzt deutlich, wenn sie hier ankommen und ganz anders empfangen werden und ganz andere Zukunftsaussichten haben. Da können wir gut anknüpfen und aufzeigen, dass es doch geht, in kurzer Zeit sehr viele Menschen aufzunehmen. Projekte wie der »Solibus« aus Berlin arbeiten dazu, indem sie explizit nicht weißen Menschen aus der Ukraine zur Flucht nach Deutschland verhelfen. Die wiederum treffen auf solidarische Strukturen hier, die diese Spaltung der Geflüchteten schon immer kritisiert haben und denen eine Perspektive geben, die von der Willkommenskultur nicht bedacht werden.
Regina: Ich finde, was Jacqueline gesagt hat, sehr wichtig, weil auch in unseren Reihen viele Leute von einer militärischen Logik her argumentieren. Man könnte meinen, dass der Pazifismus am Ende ist, weil bei diesem Krieg keiner mehr Pazifist sein will. Alle wollen Partei ergreifen – auch mit allen Konsequenzen, die ihnen aber oft nicht klar sind. Da sind ja nicht nur die, die Waffen und konkretes Mitmischen durch z. B. die Flugverbotszone fordern. Wir mussten gleichzeitig feststellen, dass es VVN-Mitglieder gibt, die meinen, sie müssten das heutige Russland aus falscher Loyalität verteidigen. Schon mit der Annektion der Krim wurde angefangen, Begründungen dafür zu suchen. Und die gleiche Begründung mit »Sicherheitsbedürfnissen« haben wir jetzt wieder. Und nun? Was wird denn passieren, wenn Russland ein Drittel der Ukraine kriegerisch übernimmt? Wird das ein friedliches Zusammenleben in der Region fördern? Das Gegenteil, und zwar für viele Generationen, wird der Fall sein. Das zeigen die Balkankriege bis heute. Und sind dann eigentlich alle Sicherheitsbedürfnisse gestillt, oder werden wir eine massive Aufrüstung rundum erleben? Ich bin, ehrlich gesagt, in den letzten Wochen noch pessimistischer und deshalb auch pazifistischer geworden und kann mit diesen Denkmustern nichts mehr anfangen.
antifa: Kurz vor dem 77. Jahrestag der Befreiung haben die Organisator*innen der Feierlichkeiten in den Gedenkstätten der ehemaligen Konzentrationslager Vertreter*innen Russlands mitunter von den Veranstaltungen ausgeschlossen, beispielsweise in Buchenwald. Ist dies eine angebrachte Reaktion?
Ulrich: Sie haben sie ja nicht nur ausgeschlossen, sie haben auch noch eine eigene Geschichtsinterpretation an den Tag gelegt. Die belarussische Fahne wurde ersetzt durch die Fahne der sogenannten Opposition, die dann auch reden durfte. Dass man dort andere Menschen sprechen lässt, wenn man keine Vertreter von Staaten sprechen lassen will, kann ich nachvollziehen. Aber hier ging es nicht nur darum, die Vertreter der Nachfolgestaaten der Sowjetunion auszugrenzen, sondern auch noch Politik für einen »Regime Change« zu betreiben. Und das hat mit Erinnerung und Gedenken wenig zu tun, sondern ist Instrumentalisierung. Ich meine, man muss es den Vertreter*innen aller Regierungen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion ermöglichen, in einer würdigen Form von Gedenken – sprich Kranzniederlegung oder mit anderen Signalen – an die Opfer der faschistischen Verfolgung und der Verbrechen zu erinnern. Dass sie dort keine Bühne bekommen sollen, um Rechtfertigungen des aktuellen Krieges zu betreiben, ist völlig richtig.
Regina Girod: Bundessprecherin der VVN-BdA, Lehrerin für Sozialpsychologie aus Berlin, Redaktion antifa
Ulrich Schneider: Bundessprecher der VVN-BdA, Historiker Hessen, Generalsekretär der FIR, Redaktion antifa
Johann Basko: Seit 2019 Mitglied der VVN-BdA in Berlin, seit kurzem im Landesvorstand, Orgateam zum 9. Mai
Jacqueline Andres: Informationsstelle Militarisierung e.V. aus Tübingen