Verfolgt und verschwiegen
7. November 2022
Homophobie und Holocaust: Anna Hájková will ein Neudenken von Geschichte
War Anne Frank queer? So liest sich zumindest ein Zitat aus ihrem Tagebuch vom 6. Januar 1944: »Unbewusst habe ich solche Gefühle schon immer gehabt bevor ich hierher kam, denn ich weiß dass ich als ich einmal abends bei Jacque [Jacqueline van Maarsen] schlief mich nicht mehr halten konnte, so neugierig war ich auf ihren Körper (…) Ich gerate jedesmal in Ekstase, wenn ich eine nackte Frauengestalt sehe, so wie zum Beispiel in der Springerkunstgeschichte eine Venus.« Dem Zitat nach zu urteilen, scheint es eindeutig, doch das 2021 erschienene Buch der tschechisch-britischen Historikerin Dr. Anna Hájková zielt nicht darauf ab, bestimmte Menschen als queer, lesbisch oder schwul zu bezeichnen. Vielmehr geht es ihr darum, die Geschichtsschreibung für nicht-heteronormative – also queere – Lebensweisen zu öffnen und die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen als heterosexuell charakterisiert werden, aufzubrechen. Nicht nach sexuellen Identitäten, sondern nach queeren Praktiken wird gesucht. Denn »ohne Teil der Holocaustgeschichte zu sein, verlieren diese Menschen [queere Menschen, Anm. d. Red.] ihre historische Zugehörigkeit und verschwinden«.
Dr. Anna Hájková lehrt als Professorin an der britischen Uni Warwick und greift in dem nur knapp 60 Seiten langen Werk den Begriff der queeren »Kinship« auf. Das bedeutet »Verwandtschaft« oder »Verbundenheit«, aber nicht im biologischen Sinne, sondern in Bezug auf Personen für die wir Intimität und Zuneigung empfinden. Sie stellt vier Kurzbio-grafien von Verfolgten vor, deren Verhalten in irgendeiner Weise queer gelesen werden kann. Neben Anne Frank ist da zum Beispiel Margot Heumann, die »erste als Jüdin deportierte lesbische Holocaust-überlebende, die Zeugnis ablegte«. Heumann wurde 1928 in Hellenthal nahe der belgischen Grenze geboren und zog 1937 mit ihrer Familie nach Bielefeld. Im Juni 1943, Margot war da gerade mal 15 Jahre alt, wurde sie mit ihrer Familie ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort lernte sie die Jugendliche Emma Schmidt kennen und lieben. Laut Hájková teilten die beiden ein Bett und tauschten Zärtlichkeiten aus. »Wir hatten nicht eigentlichen Sex. Sehr nah dran, aber keinen Sex«, sagt Margot später im Gespräch mit Hájková. Emma und Margot überlebten beide und hielten ein Leben lang Kontakt, sprachen aber nie wieder über ihre sexuelle Beziehung.
Ein wertvoller Aspekt des Buches ist, dass Hájková sich traut, diesen Erzählungen von Holocaustüberlebenden Aufmerksamkeit zu schenken und gerade die Aspekte zu betonen, die in einer homophoben Gesellschaft als »pervers«, »verunglimpfend« oder »unwichtig« deklariert werden. So entfernte der erste niederländische Verleger des Tagebuches von Anne Frank, Gilles Pieter de Neve, Einträge wie den vom 6. Januar 1944 und trug so zur Unsichtbarmachung sexueller Vielschichtigkeit bei. Hájková begründet diese Scheu gegenüber sexueller Doppeldeutigkeit im Falle Anne Frank mit der Aussage der kanadischen Anglistin Cheryl Hann, die meint, dass »jegliche Sexualisierung – und queere Sexualisierung gilt als besonders sexualisiert«, den Status als unschuldiges Opfer bedrohe. Den Opfern des Holocaust wird somit keine eigenständige Sexualität zugestanden.
Es ist wichtig, in heteronormative Geschichtsschreibung zu intervenieren und queeres Begehren von Verfolgten sichtbar zu machen, wie Hájková es tut. Dabei ist es jedoch zwingend notwendig, Begehren und sexualisierte Gewalt zu trennen. Im Falle von Nate Leipciger, ein weiteres von Hájková gewähltes Beispiel, ist das kritisch zu sehen.
Der Junge wurde mit seinem Vater aus dem Ghetto Sosnowitz (Środula) nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Im Oktober 1943, als Nate 15 Jahre alt war, kamen beide nach Fünfteichen, ein neu errichtetes Außenlager von Groß-Rosen. Ein Kapo, also Funktionshäftling, machte ihn dort zu seinem »Pipel«, so wurden junge KZ-Häftlinge genannt, die von Wärtern oder anderen, höhergestellten Häftlingen, sexuell missbraucht wurden. Hájková bezeichnet die »Beziehung« zwar als Missbrauch und sexuellen Tauschhandel – wie Leipciger später berichtete, hatte er dadurch Zugang zu besserem Essen und Tabak sowie neue, passende Häftlingskleidung. Doch spricht sie später davon, der Junge hätte »Eifersucht« gegenüber einem weiteren Opfer des Kapos und der Täter »Zuneigung« für sein Opfer empfunden. Unter anderem daraus schließt sie, dass sich eine »Form von Kinship« zwischen den beiden entwickelt hätte.
Es gehört zu den Dynamiken sexualisierter Gewalt, dass zwischen Tätern und Opfern vielschichtige Gefühle bestehen (können) – das ist kein Widerspruch zur Tat an sich. Es lohnt sich, zu hinterfragen, warum Hájková die Biografie von Leipciger als Beispiel von »Queerness« heranzieht, handelt es sich bei sexualisierter Gewalt doch keineswegs um sexuelle Praktik, sondern um die Ausübung von Macht und Gewalt. Das Schicksal von Leipciger kann deshalb vielleicht eher als Beispiel von sexualisierter Gewalt in Konzentrationslagern dienen, als ein Beispiel für Queerness.
Es wäre bestimmt hilfreich, auf Aspekte wie -»sexualisierte Gewalt in KZs« und die den Lagern eigenen Hierarchien und Machtdynamiken noch differenzierter einzugehen. Das Buch von Hájková bietet aber nichtsdestotrotz einen spannenden Einblick in die queere Geschichte des Holocaust, die immer mehr Resonanz bekommt.
Veranstaltungshinweis
Die VVN-BdA richtet am Dienstag, 29.11., ab 19 Uhr eine Onlineveranstaltung zu queeren NS-Verfolgten aus. Es referieren Dr. Anna Hájková, Professorin an der Uni Warwick in Großbritannien, sowie Dr. Bodie Ashton, Historiker, Uni Erfurt. Der Zoom-Link und weitere -Informationen sind zeitnah auf vvn-bda.de zu finden.