Streit ums Recht
7. November 2022
Ein Sammelband untersucht die juristische Sphäre politischer Kämpfe
»Es war eine Zeit des Terrorverdachts, der Berufsverbote, des Notstands«, schreiben die Herausgeber:innen einleitend im Sammelband »Streit ums Recht – Rechtspolitische Kämpfe in 50 Jahren VDJ«. Es war das Jahr 1972, als die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e. V. gegründet wurde – und direkt in den Fokus der Verfassungsschutzbehörden geriet. Wer sich in der alten Bundesrepublik als kommunistisch outete und auch noch der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) nahestand, konnte nur »verfassungsfeindlich« sein. Einige Gründungsmitglieder berichten zu Beginn des Buches aus der Zeit, von der konservativen Justiz, den allgegenwärtigen NS-Kontinuitäten und innerlinken Debatten um Sozialismus und Demokratie.
Die Zeiten haben sich gewandelt, die DDR -existiert nicht mehr, und staatsschützerische Feindbilder haben sich modernisiert. Aber immer noch haben die Schlagworte der Gründungszeit Konjunktur. Die kritische juristische Begleitung der politischen Debatten ist ein konstanter Teil linker Geschichte, der mit diesem Sammelband gewürdigt wird. Zu den aktuellen Themen vereint der Band nun Gründungsmitglieder, frühere Vorsitzende sowie engagierte Jurist:innen und lässt sie zu aktuellen Fragen Stellung beziehen. Gegliedert ist er in sechs Kapitel zu den Schwerpunkten: »Linke Jurist*innen organisieren sich«, »Kampf um eine soziale und gerechte Republik«, »Rechtsstaatlichkeit und Demokratie«, »Solidarität und Soziales«, »Gegen die Einschränkung von Freiheitsrechten« und »Kampf ums Recht: Aktuell wie vor 50 Jahren«.
Vergesellschaftung möglich
Cara Röhner berichtet über die Wohnraumkrise in vielen Städten und den Berliner Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienkonzerne. Dazu wird Artikel 15 des Grundgesetzes in Stellung gebracht, der dem Gesetzgeber einen breiten Handlungsspielraum in Sachen Wirtschafts- und Eigentumsform eröffnet. Dass es Möglichkeiten der Vergesellschaftung gibt, war immer klar. Doch hegemonial war diese juristische Position nie. Der Kampf ums Recht war und ist auch immer ein politischer Kampf um seine Auslegung.
Jasper Prigge schreibt über die Entwicklung des politischen Rechts auf Versammlungsfreiheit. In den Bundesländern sind in den letzten Jahren verschiedene Novellen des Versammlungsrechts verabschiedet worden, die zeigen, dass es ein stetes Verteidigen der grundrechtlichen Freiheiten gegen die behördlichen und polizeilichen Einschränkungsversuche bedarf.
Gesellschaftliches Stigma
Wie stark gesellschaftliche Stigmatisierung politische Organisierung hemmen kann, zeigt Ulrike Müller in ihrem Beitrag zu Protesten gegen Hartz IV und den Sozialgerichten auf. Politischer Protest lässt sich schwer um ein Stigma organisieren. Der – eben auch vereinzelte – Rechtsstreit mit den Jobcentern war hingegen erfolgreicher. Das heißt nicht, dass politische Organisierung und Ausfechtung sozialer Rechte vor Gerichten sich gegenseitig ausschlössen. Aber Hartz IV wurde eben auch viel auf der juristischen Detailebene gegen das konkrete Behördenhandeln bekämpft.
Hanah Abdullahi Musse Abucar verdeutlicht, wie sich Rassismus strukturell hinter vermeintlich formalen Normen verbirgt. In einer historischen Kontextualisierung von Gesetzesfassungen und Ausweisungen wird der antiziganistische Hintergrund des Aufenthaltsrechtes aufgezeigt. Die aktuellen Regelungen stehen in der Tradition früherer Ausweisungstatbestände und wirken als präventive Maßnahme.
Geschichte linker Bewegungen
Der Band versammelt viele politische Fragen, die alle auch in der juristischen Sphäre verhandelt werden. Er gibt auch einen Überblick über die Geschichte der linken Bewegung in Deutschland, die stets juristisch verhandelt wurde. Die Perspektive ist allerdings von der westdeutschen Linken geprägt. Manche Themen werden von den stets gleichen Autoren bearbeitet – jüngere Perspektiven könnten zu einer Modernisierung führen. Die Frage des Blicks auf die DDR könnte geschichtlich aufgearbeitet werden. Oder die antifaschistische Bewegung, die in den nun nicht mehr ganz neuen Bundesländern viel Repression und öffentliche Delegitimierung erfährt, könnte ebenso Thema sein wie der Kampf engagierter Anwält:innen und Opferberatungsstellen um die Anerkennung der rassistischen und politischen Dimension von Gewalt vor Gericht in den Tatbeständen.