Wieder Ansprüche stellen
8. November 2022
Interview mit Julian Pahlke zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung
antifa: Seit einem Jahr gibt es eine neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP. Vor welchen Herausforderungen steht sie in der Flüchtlingspolitik?
Julian Pahlke: Eine momentane große Herausforderung für Kommunen und Bund ist ganz klar die Unterbringung und Versorgung der rund eine Mil-lion Menschen aus der -Ukraine. Das Einsetzen der »Massenzustrom-Richtlinie«, die Schutz ohne vorherige Einzelfallprüfung ermöglicht, ist hierbei eine große Erleichterung. Gleichzeitig werden dadurch Standards für ähnliche Notlagen gesetzt.
Als zweite Herausforderung würde ich die europäische Ebene benennen. Mit Georgia Meloni ist in Italien, einem der wichtigsten Ankunftsländer für Geflüchtete aus Nordafrika, eine bekennende Flüchtlingsgegnerin im Amt. Was für ein Schaden allein durch den Exinnenminister Matteo Salvini beispielsweise bei der Seenotrettung auf dem Mittelmeer angerichtet wurde, war nur ein Vorgeschmack für das, was jetzt droht. Damit werden wir uns beschäftigen müssen.
antifa: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im April innereuropäische Grenzkontrollen nur unter der Voraussetzung erlaubt, dass die innere Sicherheit »ernsthaft bedroht« ist. Bundesinnenministerin Faeser (SPD) lässt aber weiter die Grenzen zu Österreich, Tschechien und Polen kontrollieren und Asylbewerber*innen abweisen. Führt Faeser die klassische Abschottungspolitik der Vorgängerregierung fort?
J.P.: Ich glaube, wir müssen sehr aufpassen, wie vergiftet diese Debatte gerade geführt wird. Dazu kommt die Angst vor russischen Saboteuren, die angeblich durch Grenzkontrollen abgehalten werden sollen. Die Zurückweisungen an den Grenzen zu Österreich und Polen sind obendrein nicht mit europäischem Recht vereinbar. Neue Kontrollen wären ein Einknicken gegenüber flüchtlingsfeindlichen Strömungen im Land. Hier fehlen die positiven Stimmen, die die Politik in eine andere Richtung treiben.
Was mich aber am meisten stört, ist das fehlende Verständnis für Flucht. In einer so ungerecht eingerichteten Welt ist Flucht andauernde Normalität – das nicht wahrhaben zu wollen ist Realitätsverweigerung. 1951 wurde als Konsequenz aus dem Leid im Zweiten Weltkrieg die Genfer Flüchtlingskonvention beschlossen. Das ist ein historisches Vermächtnis, das permanent angegriffen wird, wenn Asylsuchenden pauschal das Schutzbedürfnis abgesprochen wird. Wir wissen, dass Grenzkontrollen zu weiterer Unsicherheit beitragen. Nämlich bei denen, die auf der Flucht sind. Es gerät vieles ins Stocken, Menschen werden auf unsicherere Fluchtrouten gedrängt, und die Kontrollen stören das Zusammenleben in den betroffenen Regionen. Deswegen sind diese Grenzkontrollen letztlich auch wirkungslos, wenn es um die innere Sicherheit geht.
Bei den Grenzkontrollen geht es zudem auch oft um die Unterscheidung von mehr oder weniger schutzbedürftig. Egal, wer aus der -Ukraine flüchtet, die Bomben fallen auf alle gleich. Die Not ist die gleiche, egal ob die Menschen nun ukrainische Staatsbürger*innen sind, oder Drittstaatsangehörige, die zum Zeitpunkt des Krieges eben in der -Ukraine waren.
antifa: Im Koalitionsvertrag hatte man sich auf eine Lockerung der Bleiberechtsregelungen für Geduldete (rund 200.000 Menschen) verständigt. Was ist aus diesem »Chancen-Aufenthaltsrecht« geworden?
J.P.: Das wurde gerade auf den Weg gebracht. Rund 135.000 der zum Teil seit Jahrzehnten geduldeten Menschen bekommen dadurch eine langfristige Bleibeperspektive. Das ist ein wichtiger Schritt. Aber das ist nicht alles. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) hat im Oktober auch die Praxis des Racial Profiling in Bahnen nochmals gerügt und Deutschland ermahnt, solche Fälle unabhängig überprüfen zu lassen. Wir müssen jetzt schauen, wie ernst das vom Innenministerium genommen wird.
Parallel läuft ja die Diskussion zum Partizipa-tionsgesetz und zur Diversität in der Verwaltung. Da müssen sich Strukturen ändern, die Ausbildung muss hinterfragt werden, und wir brauchen mehr Kontrolle durch tatsächlich unabhängige Beschwerdestellen. Ich habe das Gefühl, dass es dazu eine größere Offenheit in der Koalition gibt – gerade weil mit den vielen ukrainischen Kriegsflüchtlingen gezeigt wurde, dass es vom politischen Willen abhängt.
Allerdings kann die Politik allein auch nicht alles. Die juristische Verteidigung der Rechte ist genauso wichtig. Was leider in letzter Zeit nachgelassen hat, sind die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die Möglichkeiten der Fluchthilfe und der langfristigen Perspektiven für Geflüchtete von unten aufzeigen. Mit dem Abflauen der Aktionen durch »Seebrücke« oder »Unteilbar« gerät das aus dem öffentlichen Blickfeld. Ich wünsche mir ein erneutes Aufleben dieser Bewegung, die Ansprüche an die Politik stellt, die Marginalisierung von Geflüchteten zu beenden.
Das Interview führte Nils Becker