Wendepunkt der Geschichte
7. Januar 2023
30. Januar 1933 und einfach »Machtergreifung«?: Ulrich Schneiders Buch liefert Lektionen
Ulrich Schneider hat mit dem Band eine neue Publikation zu einem Wendepunkt in der deutschen, europäischen und Weltgeschichte vorgelegt, dessen Aus- und Nachwirkungen weiterhin zu Forschungen, Kontroversen und Bezugnahmen herausfordern. Dazu gehören nicht zuletzt Fragen, ob bisherige oder vorherrschende Urteile über den deutschen »Verbrecherstaat« (Karl Jaspers) sowie daraus abgeleitete gesellschaftspolitische, ideologische und geistig-kulturelle Schlussfolgerungen sich als hinreichend und hilfreich oder als halbherzig und ungenügend erwiesen haben. Ein möglicher erster Eindruck, dass zu diesem Themen- und Problemkreis bereits viel und vielleicht sogar genug gesagt und geschrieben wurde, wird neunzig Jahre danach durch vielgestaltige Vorgänge, Gefährdungen und Streitfragen nachdrücklich widerlegt. Diese Einsicht spiegelt sich auch in der Motivation des Autors und seinem Herangehen an die Problematik wider.
Die Darstellung umfasst 14 Kapitel, die von den krisenhaften Erschütterungen sowie der Rechtsentwicklung der Weimarer Republik ab Ende der zwanziger Jahre ausgehen und über die Einsetzung der Hitlerregierung durch Reichspräsident Hindenburg bis in den raschen und zielstrebigen Ausbau des Terrorsystems sowie den Widerstand ab Frühjahr 1933 reichen. Vom zweiten bis zum letzten Kapitel sind den jeweiligen Texten insgesamt 72 dokumentarische Anlagen beigefügt. Damit wird eine authentische und nützliche Quellenbasis über die deutsche Gesellschaft zur Verfügung gestellt, die über den aktuellen Anlass hinaus wertvoll und hilfreich ist. Dies bedeutet zugleich, dass textlich wie dokumentarisch die gesamte Breite des gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Spektrums jener Jahre erfasst und vorgestellt wird. Es geht um eine möglichst differenzierte, prinzipielle und gerechte Charakteristik und Beurteilung, um die Unterscheidung von weitgehender Unterstützung und Mitwirkung in einer menschenverachtenden Diktatur, über Anpassung und Hinnahme bis zur Wahrung menschlicher Selbstachtung und Würde oder gar der Bereitschaft zu widerständigem Verhalten und Handeln.
In der verschärften politischen Labilität und akuten Krise des Herrschaftssystems – ab Sommer 1932 auffällig sichtbar in den Wechseln der Reichskanzler sowie in der kurzfristigen Folge von Reichstagswahlen im Juli und November – drängten einflussreiche Gruppen der Wirtschaft und Großbanken sowie die extrem rechten Parteien zu autoritären Lösungen. Die klerikal-bürgerlichen Parteien Zentrum und Bayerische Volkspartei – die Vorgänger der Unionsparteien nach 1945 – öffneten sich einer möglichen Einbeziehung der NSDAP in die Reichsregierung, schließlich gar unter einem Reichskanzler Hitler. Schneider stellt die unmittelbare Folge des 30. Januar 1933 in den Kapiteln »Politische Reaktionen auf die Machteinsetzung«, »Der staatliche Terror beginnt«, »Die NSDAP sucht Verbündete«, »Die Festigung der Macht, Ausgrenzung und Antisemitismus« sowie in der Unterdrückung der Arbeiterbewegung, der »Gleichschaltung« von Politik und Gesellschaft, bis zu den beginnenden Kriegsvorbereitungen und der Organisierung von Widerstand in prägnanten Skizzen und charakteristischen Fakten dar.
Ende 2022 erschien ein ebenfalls dem 30. Januar 1933 gewidmetes Heft des Spiegel/Geschichte. Der Titel ist charakteristisch für reißerische und oberflächliche Wortwahl: »Hitlers treues Volk. Warum die Deutschen dem Nationalsozialismus verfielen«. Unter den 22 Beiträgen findet sich keiner zum antifaschistischen Widerstand. Im einleitenden Beitrag wird behauptet, Hitler »wurde demokratisch ins Amt gewählt – und er blieb dort, weil die große Mehrheit mit seiner Politik im Grunde einverstanden war«. Also bis zum 30. April 1945? Zuvor hieß es diffamierend: »Die Kritiker des Regimes duckten sich angstvoll weg, der Rest lief mit.« Nicht erwähnenswert erscheint bei solcher Sichtweise, dass noch in der Reichstagswahl am 5. März 1933 mehr als zwölf Millionen Stimmen für SPD und KPD unter den Bedingungen extremer Hetze und beginnenden Terrors abgegeben und damit die Erwartungen der Nazis auf die absolute Mehrheit vereitelt wurden. Den Ersatz fanden sie in dem vom Reichstag am 23. März 1933 angenommenen Ermächtigungsgesetz: Nachdem die 81 Mandate der KPD annulliert worden waren und nur die SPD gegen diese Liquidierung der Weimarer Verfassung stimmte, trat es mit den Stimmen aller bürgerlichen Parteien und der NSDAP-Fraktion in Kraft.
Die Bundesrepublik konstituierte sich unter einer Rechtsregierung im September 1949 geschichtspolitisch mit einer entschiedenen Schlussstrichpolitik. Ihre sozioökonomische und gesellschaftspolitische Basis war im wesentlichen identisch mit jenen Kräften der Mittel- und Oberschichten, die 1932/33 kungelten und kapitulierten und für den nunmehr eingeschlagenen restaurativen Weg der skrupellosen Verdrängung des unmittelbar vorhergegangenen Geschehens bedurften. Dafür blieb auch die Fortsetzung des Antikommunismus – seiner rassistischen und offen antidemokratischen Komponenten entkleidet – unverzichtbar.
Ulrich Schneider ist Leserinnen und Lesern der antifa als Teil der Redaktion bestens bekannt und engagiert sich zudem u. a. in der Arbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora, in der VVN-BdA und als Generalsekretär der FIR. Es ist sein Verdienst, mit diesem Buch an verdrängte oder vernachlässigte Tatsachen und Sachverhalte überschaubar und gut ausgewählt zu erinnern, die für fundamentale historische Lektionen und die Suche nach lebenswürdigen Perspektiven unverzichtbar sind.