Esthers Vermächtnis
9. März 2023
Ihr letztes Interview gab sie zwei Studenten
Kurz vor ihrem Tod hat sich die bereits gesundheitlich angeschlagene Esther Bejarano noch einmal bereit erklärt mit zwei jungen Studenten, Florian und Kay, ein langes Gespräch über ihr Leben und ihren Kampf zu führen. Esther war in der Nacht davor gestürzt und lag über Stunden hilflos in der Wohnung, weil sie den Notknopf nicht erreichen konnte. Als sie hörte, dass die beiden Studenten bereits nach Hamburg gekommen sind, reißt sie sich zusammen und empfängt sie. Der Journalist Sascha Hellen, der den Kontakt hergestellt hat, schreibt in der Einleitung: »Mit einem flotten Spruch bricht Esther Bejarano gleich das Eis – und das obwohl sie Schmerzen hat vom Sturz in der Nacht, den Stunden auf dem kalten Steinboden. Die beiden wissen, was es bedeutet, dass Frau Bejarano dem Treffen unter diesen Voraussetzungen zugestimmt hat.«
Die Fragen der beiden Studenten kreisen immer wieder um die selben Themen. Wie hat sie als Mädchen die Zeit vor 1933 erlebt und wie sind ihre Eltern mit der Machtübertragung an Hitler umgegangen. Weitere Themen waren natürlich Auschwitz und Ravensbrück, ihr Leben in Israel und die Rückkehr nach Deutschland. Ihr unermüdliches Engagement gegen alte und neue Nazis ist in dem ganzen Gespräch immer präsent. Ihr Elternhaus beschreibt Esther als liberal und fährt dann fort: »… eigentlich waren die jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland liberal. Warum? – Weil wir schon alle integriert waren in Deutschland.« Sie erzählt dann weiter, dass bereits ihre Großeltern in Deutschland geboren worden sind und bei ihr zu Hause Deutsch gesprochen wurde. Ihr Vater war Kantor, und so war sie als Mädchen eingebunden in eine religiöse Welt. »Ich bin so erzogen, aber im Laufe der Zeit und mit all dem, was ich durchgemacht habe, in Auschwitz, in Ravensbrück habe ich mich in dieser Richtung geändert. Ich glaube nicht an einen Gott, ich kann nicht mehr an Gott glauben. Ich kann nicht mehr an einen Gott glauben, der alle lenkt. Wie kann ein Gott bereit sein, Tausende Menschen in die Gaskammer zu schicken oder umzubringen. Jemand wie ich, der das gesehen hat und erlebt hat, der kann nicht mehr an Gott glauben, das geht einfach nicht.«
Die Stationen der Familie waren Saarbrücken, Ulm und danach Breslau. Auf die Frage, ob sie etwas aus der Zeit ihrer Haft gelernt hat, antwortet sie: »Man muss zuversichtlich sein, man muss alle Menschen mögen, tolerant sein. Man muss sehen, dass man mit allen Menschen gut auskommen kann. Man darf keinen Hass entwickeln, das geht einfach nicht.« Auch als die beiden Studenten nachfragen, bleibt sie bei ihrer Position und führt aus: »Nein, Hass kenne ich eigentlich nicht. Es darf keinen Hass geben zwischen den Völkern, zwischen den Menschen. Das klingt jetzt sehr optimistisch, und ich bin in dieser Beziehung sehr international. Ich denke sehr international, das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass ich im Ausland gelebt habe. Aber ich glaube, dass Miteinander, die Solidarität, weiterbringt als das Gegeneinander. Es erschreckt mich, dass so viele Menschen auf der Flucht sind und dass wir hier in Europa nicht in der Lage sind, uns darum zu kümmern, diese Menschen aufzunehmen, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Stattdessen schotten wir uns wieder ab, und in vielen Ländern beginnt eine Form von Nationalismus. Haben wir nichts dazugelernt?« Leider erwähnt Esther in dem Interview weder die VVN-BdA noch das Auschwitzkomitee.
Dass der Verlag ein Buch für jüngere Menschen gemacht hat, fällt zunächst nicht auf. Erst bei einem Blick auf die Anmerkungen wurde es für mich deutlich. Viele Begriffe, die in einem Buch für Erwachsene nicht erklärt werden müssen, werden hier erläutert. Nachdem die beiden Studenten das Manuskript des Interviews durchgelesen haben, sind ihnen noch einmal Fragen gekommen. Leider konnten sie die zu dem Zeitpunkt bereits verstorbene Esther Bejarano nicht mehr fragen. Sie fanden in Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, einen sehr angemessenen Gesprächspartner. Sie sprechen mit ihm über den aktuellen Antisemitismus, dem viele jüdische Menschen in Deutschland heute ausgesetzt sind. Außerdem wird das Buch durch eine Chronik von Esther Bejaranos Leben ergänzt.
Die beiden Studenten fragen auch nach ihrer Motivation, noch bis ins hohe Alter über den Faschismus und die Shoa aufzuklären. Sie antwortet ihnen: »Was ich jungen Menschen immer sage, ist: ›Ihr habt keine Schuld an dem, was damals geschah. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nicht wissen wollt, was damals geschah. Darum: Hört gut zu und verinnerlicht das, was ich euch erzähle.‹ Das sage ich den jungen Menschen, damit sie wissen sollen: Wir wollen ein gutes Leben haben, alle miteinander. Und man darf niemals schweigen. So wie es damals geschehen ist.«
Hoffentlich findet das Buch den Weg in die Schulen. Damit können Schüler und Schülerinnen sich auch nach dem Tod von Esther noch mit ihrem Leben und ihrer Überzeugung auseinandersetzen.
Als Ergänzung erschien in der Ausgabe Mai/Juni 2023: Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass ich in meiner Rezension des Buches »Nie schweigen« von Esther Bejarano bezüglich des Herausgebers Sascha Hellen etwas übersehen habe. In der Vergangenheit hatte ich Meldungen wahrgenommen, wonach ein Journalist zu einer Veranstaltung über Esther Bejarano den Sänger Philipp Burger von der rechtsoffenen österreichischen Band Frei.Wild eingeladen hatte. Mir war nicht bewusst, dass Sascha Hellen an der Organisation dieser Veranstaltung beteiligt war. Erst nach Protesten wurde der Sänger wieder ausgeladen. Ich habe das Buch und die Auseinandersetzung um die Veranstaltung nicht zusammengebracht.